Catherine Merridale: Iwans Krieg. Die Rote Armee 1939 bis 1945. Aus dem Englischen von Hans Günter Holl, 2. Aufl., Frankfurt a.M.: S. Fischer 2006, 474 S., ISBN 978-3-10-048450-5, EUR 22,90
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In ihrem 2001 auf Deutsch erschienenen Buch "Steinerne Nächte" legte Catherine Merridale eine Art Erfahrungs-, Gefühls- und Erinnerungsgeschichte des Lebens in der Sowjetunion unter stalinistischer Herrschaft vor. Den Kern ihrer Recherche bildeten dabei Gespräche mit rund hundert Zeitzeugen, die sie zu einer historischen Gesamterzählung verarbeitete, die immer wieder von Berichten und Reflexionen über die eigenen Erfahrungen im Verlauf der Begegnungen und Nachforschungen durchbrochen wird. Demselben Prinzip folgt Merridale nun in ihrem Buch "Iwans Krieg", in dessen Zentrum der einfache sowjetische Soldat des Zweiten Weltkriegs und sein Kriegserlebnis stehen.
Zu Recht stellt sie eingangs (14) fest, dass die Geschichte der 30 Millionen Rotarmisten weithin noch terra incognita sei. Der Erfolg von Merridales Buch in Deutschland, wo es kurz nach dem Erscheinen bereits eine zweite Auflage erlebt hat und soeben als Taschenbuch auf den Markt gekommen ist, zeugt von dem Bedürfnis, vor dem Hintergrund einer intensivierten Auseinandersetzung mit den militärischen und politischen Aspekten des Krieges gegen die Sowjetunion, vor allem mit den nationalsozialistischen Massenverbrechen, die ihn kennzeichneten, mehr über die "andere Seite" zu erfahren und hier vor allem über das Schicksal des "Normalbürgers" der UdSSR. In dieser Hinsicht hat Merridales Buch einiges zu bieten: Sie schöpft aus zahlreichen Quellen - neben 200 Interviews, die sie selbst und ihre Assistentinnen Oksana Botscharowa und Marija Belowa, geführt haben, wurden Materialien aus Moskauer, Kursker und Smolensker Archiven sowie dem Freiburger Militärarchiv und eine umfangreiche Literatur herangezogen. Überdies ist sie um farbige und anschauliche Schilderungen des Geschehens bemüht, das sie, entgegen dem sowjetisch/russischen Kanon, nicht erst mit dem Beginn des 'Großen Vaterländischen Krieges' gegen das nationalsozialistische Deutschland und seine Verbündeten einsetzen lässt, sondern mit dem Winterkrieg gegen Finnland 1939/40 - dem, so Merridale, "ersten Härtetest für Stalins Rote Armee", mit einem für diese verheerenden Ausgang. Die ideologische Erziehung und die naiv-optimistischen Kriegsfilme der späten 1930er Jahre wurden hier erstmals von der Realität Lügen gestraft. (Die sowjetischen Annexionen in der Ära des Hitler-Stalin-Pakts und ihre Bedeutung bleiben außen vor.)
Die Darstellung entwickelt sich dann chronologisch entlang der Kette der Hauptereignisse des deutsch-sowjetischen Krieges, allerdings mit einer Verschiebung des Fokus auf die "Lebenswelt" - wenn man das angesichts einer Todesrate von insgesamt ca. einem Drittel so nennen kann - der einfachen Rotarmisten. Motivation, Beziehungen zu den Kameraden, zur Zivilbevölkerung und zur Familie, Desertionen, Alkohol, politische Repression, Überlebenskampf, Tod, Beute, Kriminalität und Sexualität und die Verbindung beider in der Vergewaltigungswelle am Kriegsende, besonders bei der Besetzung der deutschen Territorien werden behandelt und fügen sich zu einem facettenreichen Bild vom schrecklichen Parterre des Krieges zusammen, wie es in dieser Form bisher nicht vorgelegen hat. Dass "Iwan" durchaus auch ein "Ibrahim", "Gajdar" oder "Semjon" sein konnte, also etwa ein Tatare, Aserbaidschaner oder Jude, ein Städter oder wie in der Mehrzahl der Fälle ein Bauernsoldat, wird angesprochen. Insbesondere wird der Erfahrungshintergrund der letzteren mit dem vergleichsweise hoch technisierten Krieg kontrastiert. Aber die Differenzierungen treten letztlich hinter die typischen und allen gemeinsamen Erfahrungen zurück, um die es der Autorin in erster Linie geht.
Dabei scheinen indes die zahlreichen Interviews den geringeren Ertrag erbracht zu haben, denn Merridale stellt über ihre Gesprächspartner fest, "dass sich ein mitten im Krieg eigens für Soldaten konstruiertes und im Lauf der Jahre verhärtetes Selbstbild auf der Basis patriotischer Mythen im hohen Alter kaum mehr überwinden ließ." (20) Bei aktiven Mitgliedern eines Veteranenverbandes, aus denen Merridale in Kursk einen Teil ihrer Interviewpartner rekrutierte (418f.), erstaunt das allerdings wenig. Wie sich das Sample der Befragten genau zusammensetzte, etwa nach regionaler und nationaler Herkunft, militärischen Rängen, sozialer Schichtung, Stadt und Land - darüber verliert die Autorin kein Wort. Generell bilden die Interviews offenbar eher den Hintergrund als die Basis des Buches, denn in den Fußnoten wird weit überwiegend auf archivalische oder publizierte Quellen und auf Literatur verwiesen. Leider bedient sich Merridale hierbei des in Russland verbreiteten, intransparenten Verfahrens, Akten nur mit ihrer Archivsignatur zu zitieren und die Dokumentenbeschreibung wegzulassen. Die daraus resultierende Unmöglichkeit, sich ein Bild von der Quellenbasis zu machen, schränkt den wissenschaftlichen Wert des Buches ein.
Eine solche Einschränkung muss man auch hinsichtlich der Darstellung machen, die mehr als einmal ins Anekdotische abgleitet und in der auch Aussagen, die mit einem Einzelzitat eher illustriert als belegt werden, ebenfalls kein Einzelfall sind. Die Behauptung etwa, dass Stalin im Herbst 1941 "in den soldatischen Phantasiewelten" nicht vorgekommen sei, stützt sich allein darauf, dass der Diktator in dem Kriegstagebuch des Politruks Moskwin "kaum" erwähnt wird. Aussagen wie "Die stärksten Gefühlsbindungen hatte man 1941 zu den Toten, und das Blutopfer heiligte die starke Entschlossenheit jedes einzelnen Soldaten", entziehen sich ohnehin jeglicher Überprüfbarkeit (beide Beispiele 154).
Zugleich irritieren einige grobe sachliche Fehler. Dass Merridale, die sich in den "Steinernen Nächten" eingehend mit dem Stalin'schen Terror auseinandergesetzt hat, in ihrem neuen Buch schreibt, dem 'Großen Terror' der Jahre 1937/38 seien "Zehntausende Unschuldiger" zum Opfer gefallen (58) - tatsächlich waren es rund 1,5 Millionen, von denen ca. 700.000 erschossen wurden, während die anderen in die Lager geschickt wurden - ist unverständlich. An anderer Stelle wiederum werden völlig übertriebene Zahlen genannt: Die Behauptung, ca. zwei Millionen Ostarbeiter "mussten so schwere Arbeit verrichten, dass sie schließlich den Juden Europas in die Todeslager folgten" (320), ist abwegig, und in Majdanek sind auch nicht 1,5 Millionen Menschen ermordet worden (323); nicht einmal in der größten Mordfabrik der Menschheitsgeschichte, in Auschwitz, wurden so viele Menschen getötet. Nicht auf Belsen, das von den Briten befreit wurde, sondern auf Bełzec stieß die Rote Armee (ebenda). Dass ein Fünftel von rund 5,5 Millionen Repatrianten nach Kriegsende "sofort exekutiert oder zu 25 Jahren Zwangsarbeit verurteilt wurde" (384), ist so überzogen wie die ganze Darstellung der komplexen Repatriierungsgeschichte nebelhaft ist. Pavel Polians einschlägiges Standardwerk fehlt im Literaturverzeichnis. Dass im Frühjahr 1941 keineswegs jüdische Flüchtlinge aus Polen und der Westukraine in die Sowjetunion "strömten", wie auf Seite 317 behauptet wird, ergibt sich daraus, dass die Juden im Generalgouvernement längst ihrer Bewegungsfreiheit beraubt waren und die Westukraine zu dieser Zeit sowieso zur Sowjetunion gehörte. Auch dass jüdischen Kindern in der Sowjetunion im Zuge des wachsenden staatlichen Antisemitismus das Recht auf Schulbildung verweigert worden sei (326), entspricht nicht den Tatsachen.
Sprachliche Unebenheiten sind in dem Buch leider auch keine Seltenheit, wofür Autorin und Übersetzer wohl gleichermaßen Verantwortung tragen. Da ist, um nur einige Beispiele anzuführen, von "haariger Ironie" die Rede (47), auf einem Schlachtfeld findet sich "verkohltes Metall" (64), das Sowjetsystem "treibt auf einem Morast der Frömmelei" (81), "Tuchatschewskis Sturz verunglimpfte seine Pläne für eine Tiefenverteidigung", der Leser begegnet "bellenden Unteroffizieren" (87), Frontsoldaten bekommen - wie Guppys im Aquarium - "nichts als Trockenfutter" (158) und irgendwo wird "exzentrische Habe" verkauft (231).
Am Ende bleibt ein höchst zwiespältiger Eindruck. Zum einen hat man es mit einer Studie auf der Grundlage einer großen Materialfülle zu tun, die den extremen Alltag der Rotarmisten genauer und anschaulicher beleuchtet, als das bisher geschehen ist. Auf der anderen Seite fehlt dem Werk ein klarer analytischer Rahmen und es enthält zuviel an Spekulationen, Schludrigkeiten und Stilblüten, als dass man ihm volles Vertrauen schenken möchte.
Jürgen Zarusky