Hartmut Berghoff / Jörg Sydow (Hgg.): Unternehmerische Netzwerke. Eine historische Organisationsform mit Zukunft?, Stuttgart: W. Kohlhammer 2007, 317 S., ISBN 978-3-17-019423-6, EUR 33,00
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Seit der Ausrufung der Netzwerkgesellschaft durch die Soziologen Manuel Castells, Luc Boltanski und Ève Chiapello in den 1990er Jahren sind Netzwerke in aller Munde. [1] Verschiedene Disziplinen befassen sich mit netzwerkartigen Organisationsstrukturen, in jüngster Zeit auch vermehrt die Geschichtswissenschaften. Dies liegt nicht nur am Boom der Korruptions-Forschung, die sich mit dunklen Netzwerken befasst, sondern auch am interdisziplinären Zuschnitt und der Anknüpfungsfähigkeit dieses Feldes. Sichtbar wird der theoretisch und methodisch vielfältige Zugang auch an diesem gelungenen "Joint venture", das die erweiterten Beiträge der Jahrestagung der Gesellschaft für Unternehmensgeschichte 2007 zusammenfasst. Beteiligt sind bei der vorliegenden Reflexion über unternehmerische Netzwerke zehn Wissenschaftler und eine Wissenschaftlerin verschiedener Fachdisziplinen: Wirtschaftswissenschaften, Soziologie und Geschichtswissenschaften.
Von übergreifendem Interesse und auf hohem Niveau ist der einführende Beitrag der Herausgeber Hartmut Berghoff und Jörg Sydow. Er unterstreicht, wie vielfältig die Ansätze der Netzwerkforschung sind. Aufgrund des schillernden Begriffs fällt es schwer, eine allgemeingültige Definition zu setzen, denn zu verschiedenartig sind die Phänomene, die unter dem Begriff subsumiert werden. In diesem konzisen Band geht es aber vor allem um Netzwerke als spezifische Organisationsform ökonomischer Aktivitäten zwischen Markt und unternehmensinterner Hierarchie, d.h. um eine "lose gekoppelte, tendenziell vertrauensbasierte Kooperation, die nicht primär durch Preismechanismus oder Anweisungen gesteuert wird" (10). Zu den Netzwerken zählen die Herausgeber z.B. den Fernhandel und Großbaustellen, das Verlagssystem in Textil- und Kleineisenindustrie, regionale Cluster oder überregionale Zulieferringe, ethnische, religiöse, freundschaftliche und verwandtschaftliche, d.h. zumeist personale Netzwerke mit teils hoher Pfadabhängigkeit. Behandelt werden hier vor allem personale und interorganisationale Netzwerke, weniger solche innerhalb von Organisationen. Aus Beschränkungsgründen konnten auch kommunikationstechnische und neuronale Netzwerke - die aktuell am stärksten diskutierten Typen - ebenso wie die verkehrstechnischen Netzwerke nicht einbezogen werden. Hier bleibt also noch genügend Raum für weitere Forschungen.
Als frühes Beispiel von Netzwerken zwischen Organisationen dient der vorindustrielle Fernhandel. Einzelne, nur lose kooperierende Kaufleute waren auf Informations-, Koordinations- und Überwachungsleistungen der anderen Akteure im Netzwerk angewiesen. Die Ambivalenzen eines solchen vertrauensbasierten Netzwerkes zeigen Ulf Christian Ewert und Stephan Selzer am Beispiel der hansischen Kaufleute im Spätmittelalter auf. Dieses Vertrauen blieb - neben Hierarchie und Preisen - nach der Analyse von Christof Dejung auch innerhalb der horizontalen Netzwerke der schweizerischen Baumwollhändler Gebrüder Volkart bis in das 20. Jahrhundert ein bedeutender Kontrollmechanismus. Insbesondere im Handel mit Indien spielten stabile Handelsnetze mit einheimischen Brokern eine wichtige Rolle. Später wandelten sie sich durch neue Kommunikations- und Transportmittel zu integrierten Einkaufsagenturen der europäischen Fernhändler, wodurch es zu einer Mischung aus Hierarchie und Netzwerk kam.
Martin Fiedler analysiert dagegen die Personal- und Kapitalverflechtungen der 350 größten deutschen Aktiengesellschaften in den Jahren 1927 und 1938. Er kann zeigen, dass sie entscheidend zum Erfolg dieser Rechtsform von Großunternehmen (der AG) beigetragen haben. Deutlich macht er auch, dass weitere langfristige Forschungen vonnöten sind, um die zeitliche Abfolge von Personal- und Kapitalverflechtungen sowie ihre Auswirkungen zu bestimmen. Auf weitere Desiderate verweisen Helmut Hirsch-Kreinsen (Innovationsnetzwerke), Ralf Richter (Werkzeugmaschinenbau in Chemnitz und Cincinnati), Walter Kaiser (Automobiltechnik im Raum Stuttgart), Jörg Sydow und Frank Lerch (Region Berlin-Brandenburg). Die Beiträge befassen sich mit Innovationsnetzwerken oder regionalen Clustern, die technologische Entwicklungen befördert haben. Die Autoren können dabei vor allem an Sydows frühe Forschungen zu strategischen Netzwerken anknüpfen und diese weiterführen. [2]
Mit dem Management intra- und interorganisationaler Netzwerke befassen sich Gisela Hürlimann sowie der Beitrag von Florian Stadlbauer, Thomas Hess und Stefan Wittenberg. Während Hürlimann sich detailliert der innerbetrieblichen Diskussion der Taktfahrplan-Innovation der Schweizerischen Bundesbahnen von den 1960er bis 1980er Jahren widmet, befasst sich das Autorenteam mit der aktuellen Managementpraxis in 44 ausgewählten deutschen Unternehmensnetzwerken, die mittels Fragebogen untersucht wurden. Schließlich runden Beiträge zu dunklen, kriminellen Netzwerken von Jürgen Nautz (Frauenhandel) und Thomas Welskopp (US-Alkoholsyndikate während der Prohibition) den Band ab. Weiterführend ist dabei die These Welskopps, dass das Netzwerk nicht nur die bevorzugte Organisationsform der Organisierten Kriminalität sei, sondern dass solche dunklen Netzwerke am besten in wirtschaftlich gut funktionierenden Systemen florierten. Die Forschung wird sich daher nicht nur mit den innovativen Beiträgen von Netzwerken zu einer "neuen" Ökonomie beschäftigen müssen, sondern auch verstärkt kriminelle Akteure, ihre Systeme von Patronage, Beziehungspflege und Bestechung einbeziehen müssen.
Hilfreich sind bei diesem Band die zusammenfassenden Abstracts und Gliederungen, eher umständlich das Harvard-Zitationsschema. Zur leichteren Erschließung des Themas wären eine Gesamtbibliographie sowie ein Autorenverzeichnis wünschenswert gewesen. Diese kleinen Monita schmälern aber den wissenschaftlichen Gehalt des Bandes nicht, er dürfte zum grundlegenden Standardwerk werden. Der besondere Wert ist darin zu sehen, dass hier nicht nur theoretische Modelle diskutiert werden, sondern auch die empirische Substanz verschiedener Netzwerkansätze erprobt und eindrucksvoll belegt wird. Zwar kommt der Ansatz von Boltanski/Chiapello, der sich für die Unternehmensgeschichte als innovative Herausforderung gezeigt hat, zu kurz [3]; aber alle Beitragenden zu diesem Band haben es verstanden, theoriegeleitete empirische Beiträge in einer gut lesbaren Sprache zu schreiben. Zudem ist nicht nur die thematische, sondern auch die zeitliche Spannbreite, die vom Mittelalter bis zum 21. Jahrhundert reicht, außerordentlich groß. Den Herausgebern ist daher zu danken, dass sie dieses bedeutende und spannende Forschungsfeld mit interdisziplinärem Zugriff erfolgreich erschlossen und zu weiteren wissenschaftlichen Diskussionen angeregt haben.
Anmerkungen:
[1] Manuell Castells: The Rise of the Network Society, Oxford/Malden 1996; Luc Boltanski/Ève Chiapello: Le Nouvel Esprit du Capitalisme, Paris 1999.
[2] Jörg Sydow: Strategische Netzwerke. Evolution und Organisation, Wiesbaden 1992.
[3] Jahrestagung 2006 des Arbeitskreis Kritische Unternehmens- und Industriegeschichte und Morten Reitmayer / Ruth Rosenberger (Hgg.): Unternehmen am Ende des 'goldenen Zeitalters'. Die 1970er Jahre in unternehmens- und wirtschaftshistorischer Perspektive, Essen 2008.
Stefanie van de Kerkhof