Stefan Karner u.a. (Hgg.): Prager Frühling. Das internationale Krisenjahr 1968 (= Veröffentlichungen des Ludwig-Boltzmann-Instituts für Kriegsfolgen-Forschung, Graz - Wien - Klagenfurt; Sonderband 9/1, 9/2), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2008, 2 Bde., 1296 S. + 1589 S., ISBN 978-3-412-20231-6, EUR 84,90
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Der "Prager Frühling" stand bei Verliebten als Metapher für die Reformierbarkeit des Kommunismus, sein Ende im August 1968 haben die Enttäuschten, wie Leszek Kolakowski 1971, mit dem "klinischen Tod des Kommunismus" gleichgesetzt. In der Tschechoslowakei löste die Intervention im August 1968 eine Schocktherapie aus. Schon Anfang der 1970er Jahre arrangierte sich die Gesellschaft mit ihrer Herrschaft: Nach dem Als-Ob-Prinzip gab eine Seite vor, zu herrschen, und die andere ließ sich ihren politischen Gehorsam mit Konsum gratifizieren. Der "Prager Frühling" war vergessen worden, bis ihn die späte sowjetische und die neue russische Geschichtsschreibung vorübergehend als den "Sündenfall" des Kommunismus aufgriffen. Dies blieb ohne nachhaltige Wirkung und die neuere russische Geschichtsschreibung bietet gleich mehrere Interpretationen an, die zu belegen versuchen, dass eigentlich die Tschechen an allem schuld gewesen seien. Als vor einem Jahr zwischen Russland und Tschechien in dieser Hinsicht der diplomatische Schlussstrich gezogen wurde, übernahm der tschechische Fiskus auch die Entschädigung der 300 bis 400 Todesopfer der Intervention, obwohl die Okkupation der ČSSR sowohl nach altem sowjetischem als auch nach neuem russischem Verfassungsrecht für illegal erklärt worden war.
Historiografisch ist das Werk nicht optimal verortet. Das Krisenjahr 1968 bleibt auf die Intervention der fünf Warschauer-Pakt-Staaten in die ČSSR und ihre unmittelbare Vorgeschichte fokussiert. Trotzdem handelt es sich um ein sehr wichtiges Werk. Im ersten Band stellt es 70 Beiträge von 80 Historikern aus "Europa, Russland und den USA" in zwölf thematischen Kapiteln und im zweiten Band 232 Dokumente aus 37 Archiven vor. Die Dokumente sind in zehn Abschnitten angeordnet und zweisprachig - meistens in Deutsch und Russisch, in einigen Fällen in Englisch und Russisch - ediert.
Alles, was man hier zum Inhalt sagen könnte, steht im 50-seitigen Vorwort der Herausgeber. Unterbelichtet bleibt aber die Vorgeschichte: Dies gilt vor allem für den Versuch, die ab 1963 evidente Wirtschaftskrise in der ČSSR mit Hilfe verbesserter Wirtschaftsbeziehungen zu Westdeutschland zu lösen, was im Kontext der "neuen deutschen Ostpolitik" für erhebliche Konflikte innerhalb des Ostblocks sorgte und sogar ausdrücklich als Begründung diente für die "zeitweilige Stationierung" sowjetischer Truppen in der ČSSR "zum Zwecke der Sicherheit der Länder der sozialistischen Gemeinschaft vor den wachsenden revanchistischen Bestrebungen der westdeutschen militaristischen Kräfte", wie es im "Vertrag" vom 16. Oktober 1968 wörtlich hieß. Gleiches gilt für die militärstrategischen Aspekte: War der "Prager Frühling" eher Vorwand oder Ursache des Einmarsches? In der Einleitung werden die sicherheitspolitischen Aspekte zwar als Desiderat bezeichnet, doch die dort gemachten Ausführungen sorgen für zusätzliche Irritation: Waren nun in der ČSSR in den 1960er Jahren sowjetische Atomwaffen aufgrund einer lediglich "persönlichen" Zustimmung des Staats- und Parteichefs Novotný gelagert, wie einige amerikanische Historiker behaupten, oder nicht?
Während für die Sowjetunion eine Steigerung der Rüstungsanstrengungen infolge der Intervention konstatiert wird, wird dem Westen eine Fortsetzung der Entspannungspolitik bescheinigt. Doch als direkte Reaktion auf die Intervention fand schon in Januar 1969 in der Bundesrepublik das erste Reforger-Manöver der US-Streitkräfte statt. Eine Luftbrücke zwischen den USA und der Bundesrepublik sollte die konventionelle "Vorneverteidigung" der NATO ab der westdeutschen Ostgrenze garantieren.
Weiterführend wäre ebenfalls ein kurzer Hinweis auf die innenpolitischen Folgen gewesen. Dubček, der zwar als "Moskaus Mann in Prag" bezeichnet, aber im Tenor in der traditionellen Diktion des "tragischen Helden" schraffiert wird, wird nachgesehen, dass er ab April/Mai 1968 "gegenzusteuern" versuchte und 1969 die sogenannte Normalisierung mittrug, die 1970 den Ausschluss eines Drittels der Parteimitgliedschaft aus der KPČ zur Folge hatte.
Mehr Aufmerksamkeit hätte auf jeden Fall der sogenannte "Hilferuf" verdient, schon wegen der Legendenbildung. Zum einen weil das damalige sowjetische Politbüromitglied Schelest, der als "der Kontaktmann" zur "Prager Moskau-Gruppe" fungierte, in seinen Erinnerungen behauptet, dass die Übergabe des "Einladungsbriefes" an die Adressaten nicht geklappt habe. Zum zweiten weil Vartanov beispielsweise ganz selbstverständlich von der Existenz eines solchen Briefes ausgeht (Band 1, 664) und zum dritten weil zumindest im "Neuen Deutschland" am 22. August 1968 ein ganz anderer Text des "Hilferufs" erschien als in der Moskauer "Prawda" vom gleichen Tag, obwohl der sowjetische Politbürobeschluss vom 19. August samt beigefügter TASS-Sprachregelung in Ostberlin zumindest hätte bekannt sein müssen (vgl. Dokument Nr. 94, Band 2, 739f.). Dass ein "Einladungsbrief" in Moskauer Archiven entdeckt wurde, bedeutet nicht viel, denn zweifelsohne wurde er vor Ort diktiert. Sehr verdienstvoll ist dafür die Demontage der Legende, wonach Walter Ulbricht aus "historischem Feingefühl" heraus die Beteiligung der NVA an der Intervention abgelehnt haben soll. Wie so oft in der Propaganda: Das Gegenteil entsprach den Tatsachen.
Besonderes Interesse weckt der Dokumentenband. Dass kein Verzeichnis der Dokumente gemacht wurde, ist ein evidenter Mangel, denn die Untergliederung nach thematischen Gesichtspunkten erschwert die Orientierung. Übersehen wurde auch, dass die mit redaktionellen Titeln versehenen deutschsprachigen Dokumententexte missverständlich sind, wenn man des Russischen nicht mächtig ist. Vor allem aber fällt auf, dass tschechische und polnische Dokumente nur nach veröffentlichten Fassungen ediert wurden. Unklar bleibt auch, warum nur eine beschränkte Anzahl tschechoslowakischer Dokumente präsentiert wurde, wobei ins Auge springt, dass alle Protokolle sowjetisch-tschechoslowakischer Verhandlungen ausschließlich aus russischen Quellen stammen. Das Fehlen einer parallelen tschechisch-slowakischen Überlieferung oder der Verzicht der Herausgeber auf die Überprüfung der "Deutungshegemonie russischer Quellen" hätte in der Einleitung vermerkt werden müssen. Nach 1969 fand in der Tschechoslowakei nämlich eine Aktion zur "Löschung des historischen Gedächtnisses" statt: Schulkinder wurden aufgefordert, alles schriftliche Material aus den Jahren 1968/69 einzusammeln und "zur ewigen Aufbewahrung" abzuliefern.
Die meistens aus russischen Archiven stammenden Dokumente transportieren ein Parteiengezänk im Stil eines Rosenkranzgebets, mit leeren Beschwörungsfloskeln und offenen Widersprüchen gewürzt. Oft erwecken die Inhalte den Eindruck einer reinen Propaganda- und Desinformationsschlacht. Die damals veröffentlichte Desinformationspropaganda mit ihrer auffälligen antideutschen Fixierung befestigt diesen Eindruck nachhaltig. Schon ein entsprechender Hinweis hätte mancher Archivikone den Heiligenschein gekostet. Außerdem scheint es sich bei vielen in den sowjetischen Aktenstücken enthaltenen Anwürfen an die tschechoslowakische Adresse zugleich oder gar hauptsächlich um Argumente aus innerparteilichen Auseinandersetzungen in der KPdSU-Führung zu handeln: Sie greifen nämlich sachlich nicht, wenn man sie chronologisch und systematisch einsortiert.
Aus diesem Grund wäre es vielleicht an mancher Stelle wünschenswert gewesen, wenigstens einige der in den russischen Dokumenten enthaltenen Vorwürfe kommentiert zu sehen: So beschossen in Bratislava "zwei Deutsche" sowjetische Soldaten (Band 2, 1029), in der Slowakei wurden "Brunnen mit Ruhrbazillen vergiftet". Und obwohl die fremden Truppen auf dem Lande "freundlich begrüßt" wurden, seien in der ersten Woche der Okkupation 58 sowjetische Soldaten erschossen und 250 verletzt worden (Band 2, 763). Stellvertretend hätte mindestens der tödliche Unfall bei der 1. Gardearmee überprüft werden können: "Kinder, die sich auf einer Bergstraße als Streikposten aufgestellt hatten", verursachten, dass ein sowjetischer Panzer samt Besatzung in eine Schlucht stürzte... (Band 1, 670). Dies wird ohne Orts- und Zeitangabe, lediglich nach einem Buch über sowjetische Marschälle zitiert und ist weder im abgedruckten Bericht des militärischen Oberkommandos noch des KGB enthalten, die sonst jeden beschädigten Panzer minutiös aufzählten. Da die betroffene Einheit aus der DDR anrückte, hätte der Unfall "aus geographischen Gründen" also kurz hinter der Grenze passieren müssen... Was machen aber Kinder, die im August Schulferien hatten, nachts auf Bergpässen? Wegen des gewaltigen Umfangs bleibt zu hoffen, dass tschechische und slowakische Historiker den Forschungsstand mit den Dokumenteninhalten abgleichen.
Kleinere Fehler haben sich eingeschlichen im Band 1, 736, wo es heißt: "Am 14. und 15. Oktober 1968 wurde schließlich der Vertrag über die dauerhafte Stationierung sowjetischer Truppen in der ČSSR besiegelt". Der Vertrag über die "zeitweilige" Stationierung war aber vom 16. Oktober und wurde am 18. vom Parlament ratifiziert (1990 ex nunc für ungültig erklärt). Im Band 2, 145, standen unter dem Manifest der "2000 Worte" vom 27. Juni 1968 nicht drei Unterschriften aus Cottbus (in Brandenburg/damals DDR), sondern aus Chotěbuz in Schlesien/ ČSSR: Die interne Übersetzung aus dem SED-Parteiapparat wie der darauf basierende russische Text sind fehlerhaft. Falsch ist die Bildunterschrift im Band 1, 200: "Polnische Truppen marschieren in die ČSSR ein", denn auf dem Foto verlassen sie die ČSSR Richtung Polen. Auch die Bildunterschrift auf Seite 501 trifft nicht zu: "Vystup" bedeutet nicht "Eintritt, Einmarsch", wie es dort heißt, sondern im Gegenteil "Ausstieg". Solche Kleinigkeiten schmälern aber nicht die großen Verdienste des gewaltigen Unternehmens.
Jan Foitzik