Ralph Blessing: Der mögliche Frieden. Die Modernisierung der Außenpolitik und die deutsch-französischen Beziehungen 1923-1929 (= Pariser Historische Studien; Bd. 76), München: Oldenbourg 2008, 507 S., ISBN 978-3-486-58027-3, EUR 59,80
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Hermann Graml: Bernhard von Bülow und die deutsche Außenpolitik. Hybris und Augenmaß im Auswärtigen Amt, München: Oldenbourg 2012
Hans Fenske: Der Anfang vom Ende des alten Europa. Die alliierte Verweigerung von Friedensgesprächen 1914-1919, München: Olzog Verlag 2013
Karl Heinrich Pohl: Gustav Stresemann. Biografie eines Grenzgängers, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2015
Blessings überarbeitete Dissertation (Humboldt-Universität Berlin) bietet zweierlei. Auf der ersten Ebene liefert sie eine sehr detaillierte und die Ereignisabläufe gelegentlich auch breit schildernde Geschichte der deutsch-französischen Beziehungen in den mittleren Jahren der Weimarer Republik (unter Einbeziehung der Vorgeschichte seit dem Ende des Ersten Weltkriegs und mit einem Ausgriff auf das Jahr 1930). Um es also an einigen markanten Punkten festzumachen: Es geht um die Ruhrbesetzung und den "Ruhrkampf" von 1923, den Dawesplan von 1924, die Locarnoverträge von 1925, den deutschen Völkerbundbeitritt und das Gespräch von Thoiry von 1926, den deutsch-französischen Handelsvertrag von 1927, den Briand-Kellogg-Pakt von 1928, den Youngplan von 1929, Briands Europainitiative von 1929/30. Schon die Beispiele zeigen, dass Blessing dabei an vielen Stellen die zum Verständnis unverzichtbaren Grundlinien der Beziehungen beider Staaten zu Großbritannien und den USA einbeziehen muss.
Im Bereich der deutsch-französischen Beziehungen ist bereits viel erforscht und veröffentlicht worden und somit das meiste nicht ganz unbekannt. Blessing kann jedoch durch seine intensive Auswertung der für die betreffenden Jahre immer noch nicht veröffentlichten französischen Akten die eine oder andere Facette hinzufügen und damit vor allem das französische Handeln in manchen Punkten plausibler machen. Zwei Handlungsfelder hat er dabei im Blick: Das außenpolitische Agieren im engeren Sinne und die Außenwirtschaftspolitik. Die gesellschaftlichen Beziehungen und deren Auswirkungen auf die Politik, die in den letzten Jahren wiederholt in der Forschung Berücksichtigung fanden, übersieht er nicht völlig, aber sie werden nur am Rande gestreift. Leider mindert Blessing die Nutzung des Buches als Nachschlagewerk für denjenigen, der es lediglich für einzelne Fragestellungen der deutsch-französischen politischen Beziehungen jener Jahre konsultieren will, weil er sich auf ein Personenregister beschränkt und das bei der ausgebreiteten Materialfülle an sich unverzichtbare Sachregister fehlt.
Auf einer zweiten Ebene sucht Blessing eine Antwort auf die Frage, ob und inwieweit sich die "Modernisierung" der Außenpolitik in Frankreich und Deutschland durchgesetzt und auf die Beziehungen ausgewirkt bzw. was ihr noch gefehlt habe, um nach 1929 nicht gleich wieder zum Scheitern der Verständigung zu führen. "Modernisierung" wird dabei in Anlehnung an Schumpeter als Prozess verstanden, der Innovationen umsetzt; im konkreten Fall bezieht sich das auf das "liberale Modell der Friedenssicherung" (15), dessen drei Hauptlinien "kollektive Sicherheit, wirtschaftliche Liberalisierung und Demokratisierung" darstellen (180). Zum Ende eines jeden einzelnen Abschnitts wird - ein wenig mechanisch - danach gefragt, inwieweit das jeweils Beschriebene nun der Modernisierung im erläuterten Sinne geholfen habe, wobei ganz überwiegend die Sicherheitsfrage und der Aspekt der wirtschaftlichen Liberalisierung Berücksichtigung finden, während offenbar "Demokratisierung" als gegeben angenommen wird.
Dieses methodische Herangehen ist natürlich völlig legitim und von der Idee her nicht ohne Reiz: Die deutsch-französischen Beziehungen in den mittleren Jahren der Weimarer Republik und das Handeln der Hauptakteure dürften inzwischen hinreichend beschrieben sein, sodass wohl nur noch neue Fragestellungen auch neue Erkenntnisse erhoffen lassen. Aber bei Blessings Umsetzung kommt doch ein wenig Zweifel an der Tragfähigkeit seines konzeptionellen Herangehens auf. Das mag an einem Aspekt erläutert werden: Immer wieder steht bei ihm auf der einen Seite das französische Sicherheitsstreben, auf der anderen Seite der deutsche Revisionismus. Das ist an sich nichts Neues und wird grosso modo auch von der bisherigen Forschung zu den deutsch-französischen Beziehungen in der Zeit der Weimarer Republik so gesehen. Nun scheint jedoch für Blessing das französische Sicherheitsstreben nicht grundsätzlich der Modernisierung entgegenzustehen, sofern es sich in ein System kollektiver Sicherheit habe integrieren lassen - während der deutsche Revisionismus offenbar damit strukturell nicht vereinbar gewesen sein soll. Diese Einschätzung hängt wohl damit zusammen, dass der Autor offenbar den Versailler Vertrag für eine geeignete Basis oder jedenfalls einen hinreichenden Ausgangspunkt für ein System kollektiver Sicherheit hält. Dies wird besonders deutlich, wo er - ohne das wirklich beweisen zu können - insinuiert, Poincaré sei es 1923 mit der Ruhrbesetzung möglicherweise nur um die strikte Einhaltung des Versailler Vertrags und damit um den Erhalt "eines festgelegten Rechtssystems" (138) gegangen, also sei sein Vorgehen letztlich "modernisierend" gewesen.
Aber was wäre das für ein stabiles "System kollektiver Sicherheit", in dem eine Seite auf dasjenige verzichtet, was sie für ihre nationalen Interessen hält, während die andere Seite ihr nationales Anliegen erfüllt sieht? Muss nicht auch in einem solchen System ein Mechanismus für den Interessenausgleich wirken, um überhaupt erst kollektive Sicherheit zu ermöglichen? Ein hartgesottener Vertreter der "realistischen Schule" würde außerdem fragen: Kann es eine solche kollektive Sicherheit bei grundlegend divergierenden Interessen innerhalb des Systems überhaupt geben, sofern sie nicht (vorübergehend) von einem Hegemon oktroyiert wird? Und schließlich eine für den Historiker bei aller Theoriebildung stets mitzubedenkende Frage: Inwieweit muss den einzelnen Hauptakteuren, also den verantwortlichen Politikern (die bei Blessing eher blass bleiben), eigentlich selbst der tatsächliche oder vermeintliche Widerspruch ihrer Interessenpolitik gegenüber den "modernen" Ideen bewusst gewesen sein, damit die Fragestellung nicht in die Gefahr des Anachronismus gerät?
Freilich zeigen solche Nachfragen an Blessings Studie den Wert seiner Suche nach neuen Fragestellungen - und wenn der Leser nicht auf Anhieb und restlos überzeugt ist, so bedeutet das doch keineswegs, dass diese Suche nach neuen Erkundungswegen nicht an sich wertvoll und erkenntnisfördernd wäre.
Wolfgang Elz