Kristiane Pietsch: Charles Blanc (1813-1882): Der Kunstkritiker und Publizist. http://diss.ub.uni-duesseldorf.de/ebib/diss/show?dissid=939, Düsseldorf: Universitäts- und Landesbibliothek 2004
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Diese Rezension erscheint auch in KUNSTFORM.
David Mandrella / Hermann Mildenberger / Benjamin Peronnet / Pierre Rosenberg: Von Callot bis Greuze. Französische Zeichnungen des 17.und 18. Jahrhunderts, Berlin: G & H Verlag 2005
Volker Remmert: Widmung, Welterklärung und Wissenschaftslegitimierung. Titelbilder und ihre Funktionen in der Wissenschaftlichen Revolution, Wiesbaden: Harrassowitz 2006
Pierre Rosenberg: Poussin, Lorrain, Watteau, Fragonard . . . Französische Meisterwerke des 17. und 18. Jahrhunderts aus deutschen Sammlungen. Eine Ausstellung der Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland, Bonn, der Bayerischen Staatsgemäldesammlungen, München, der Stiftung Haus der Kunst, München, und der Réunion des Musées Nationaux, Paris, Ostfildern: Hatje Cantz 2005
Ihre Dissertation über Charles Blanc eröffnet Pietsch mit einer potenten Feststellung: "Die Forschung beginnt [...] zunehmend", Charles Blancs Wirken "mit neuen Denkansätzen [...] zu begegnen. Sie reicht über die rein kunsttheoretischen [...] Betrachtungen hinaus und visiert eine größere Perspektive" auf dessen Gesamtwerk an (9); allen voran der Beitrag Robert Scherkls, der ideengeschichtliche Zusammenhänge untersucht. [1] Diese bilden auch den Kern von Pietschs Analyse, die Blancs Schriften als Versuch zur 'Demokratisierung der bildenden Künste' sieht (30, 89, 145ff.). Evoziert diese neue Forschungsrichtung nicht unmittelbar die Frage nach der Aktualität von Blancs Unternehmen?
Pietsch gliedert ihre auf die soziopolitischen Aspekte von Blancs Schriften konzentrierte Arbeit in drei Teile (7-8). Kapitel I widmet sich der Analyse von Blancs Berichten über Salon- und Weltausstellungen (8). Das folgende Kapitel untersucht, inwieweit Blancs Schriften Einflüsse seines als Mitbegründer der Sozialdemokratie geltenden Bruders Louis erkennen lassen und ordnet sie in die "kultursoziologoische und politische Gesamtsituation in Frankreich" ein (8). Das letzte Kapitel behandelt die Rezeption "bis in das 21. Jahrhundert" (9).
Die Feingliederung zersplittert indes in repetitive Teile, wie bereits die erste Kapitelfolge "I.1. Die Institution Salon im 19. Jahrhundert", "I.1.1. Der Salon", "I.1.2. Der Salonjournalismus" und "I.2.2.2. Das Salonwesen" zeigt (4). Auch verunklart die Struktur, dass der Forschungsbericht erst im letzten Analysekapitel erfolgt (232ff.) und dass einige Titel von sprachlicher Unsicherheit zeugen: "3.1.4. Die Brüder Blanc als die Personifizierung ihrer Schriften" meint wohl: Die Schriften der Brüder Blanc als Spiegel ihrer Geisteshaltung, und "II.5.4. 'Gazette des Beaux-Arts': Ein visueller Salon" kann allenfalls heißen: Ein 'fiktiver' Salon.
Als Ergebnis erbringt Kapitel I, dass Blanc schon in den frühen Salonbesprechungen (1839-1846) politisch argumentierte: "'Größe und Bedeutung der Kunst' findet er in den Regierungsformen der reinen Monarchie und der starken Demokratie. Während erstere aus der Kunst einen 'Sklaven oder Schmeichler' mache, liefere ihr zweitere fast immer eine 'heroische Aufgabe'" (30). Seine Kritik habe sich aber "nicht auf die Institution Salon, sondern auf die ihn konstituierenden Faktoren" bezogen (32), die auf dem problematischen Verhältnis "von Kunst und Geld" basierten (31). Angesichts dieses Dilemmas habe Blanc in seinen späten Salonberichten (1865-1869) ein Modell entwickelt, das dem als "Salon d'argent" bezeichneten Ausstellungsbetrieb einen fiktiven "Salon d'honneur" zur Seite gestellt habe, welcher reduzierte Exponatzahlen und ausschließlich durch die Liebe zur Kunst motivierte Auswahlkriterien zugunsten der Qualitätssicherung der Kunst propagiert habe (51-57). Damit habe sich zugleich Blancs "Wandlung vom Kritiker zum Ausstellungsmacher, Organisator und Kunstexperten" vollzogen (57). Blancs Berichte über die Weltausstellungen hätten sich hingegen zur Synthese entwickelt: Habe er 1867 noch erklärt, dass die "[schöne] Welt der Kunst" und die "[nützliche] Welt der Industrie" für ihn "nicht kompatibel" seien (82), so habe er sie 1878 in "brüderlichem Wettbewerb" gesehen, da beide "Ergebnisse menschlicher Produktivität" vorstellten (88). So habe sich die von Blanc seit 1848 "als Staatsform und conditio sine qua non der Kunst" gepriesene Demokratie für ihn "nicht mehr nur als Grundlage, sondern auch als progressiver Faktor des Kunstgeschehens" erwiesen (89).
Kapitel II zeigt auf, dass Louis Blanc als Autor der 1839 erschienenen "programmatische[n] Abhandlung 'L'Organisation du travail'" (116) seinem Bruder Charles aufgrund "seiner hervorragenden Beziehungen im Bereich Presse und Journalistik" erst ermöglicht habe, "als Kunstjournalist und Kunstkritiker tätig zu sein und sich zu etablieren" (107). Auch hätten beide gemeinsam publiziert (107), und 1868 habe Charles erklärt, dass er "Kenntnisse in 'wirtschaftlicher Politik' bei seinem Bruder in früheren Jahren erworben" habe (109). Daraus folgert Pietsch, dass "Louis Blancs Erkenntnisse und Ausführungen über die geistige Arbeit ihre Fortsetzung und Weiterentwicklung bei Charles Blanc und somit im Bereich der bildenden Künste finden" (127-128). 1859 habe Charles Blanc als Krönung seines Gesamtwerks die durch Stiche illustrierte "Gazette des Beaux-Arts" gegründet, in der er sein Konzept zur "Demokratisierung der Kunstwelt" entwickelt und "Bildung, Erziehung und Kommunikation" als Aufgaben der Kunst definiert habe (9). Da Blanc in der "Gazette" gewissermaßen seinen 'Salon d' honneur' projiziert habe, seien deren Leser imstande gewesen, "ein ausgewähltes 'wertvolles' Kunstobjekt mit Kenntnis und fachlicher Kompetenz zu betrachten", was "nichts anderes als eine ideale Form von 'demokratischer Kunsterziehung' auf hohem Niveau" sei (195).
In Kapitel III resümiert Pietsch, dass rezeptionsgeschichtlich erst im 21. Jahrhundert eine "Zielausrichtung auf sein gesamtes Werk" erkennbar sei, die "mehr und mehr ein Bild" entstehen lasse, "das Charles Blanc und der wahren Absicht seiner Arbeit gerecht" werde (239). Diesbezüglich sei angemerkt, dass es - gerade im Hinblick auf eine Gesamtwürdigung - hilfreich gewesen wäre, trotz der angekündigten Vernachlässigung "kunsttheoretischer [...] Detailfragen" (7) Schlüsselbegriffe aus Blancs Schriften stärker einzubinden; insbesondere so traditionsreiche wie "unité" und die beiden Horaz-Maximen "ut pictura poesis" und "delectare et prodesse".
"Unité" wird ungeachtet zahlreicher Zitate (25, 66, 80, 85, 103) nicht als übergeordnetes Kriterium von Blancs Schaffen identifiziert, das sich in seinem ganzheitlichen Blick auf Kunst und Gesellschaft, seinem Wunsch nach einender Demokratisierung und der geschlossenen Entwicklung seiner Schriften manifestiert (vgl. 27, 37, 41, 59, 79, 148, 168, 188). Das lediglich einmal in einer Fußnote erwähnte "ut pictura poesis"-Prinzip (34, Anm. 148) begründet Blancs mehrfach hervorgehobenen poetischen Stil (26, 65, 76-77, 98, 104), und die Maxime "delectare et prodesse", welche nicht benannt, sondern lediglich mit den Begriffen des "Schönen" und "Nützlichen" umschrieben wird (60, 83f., 90f., 127), bildet Blancs pädagogisches Leitmotiv.
Abschließend fragt Pietsch: "Wie hätte Blanc im virtuellen Zeitalter agiert?" (243). Diese Hypothese führt jedoch nicht weiter. Überdies bietet das Internet bereits ein 'demokratisches' Medium, das Blanc mit seinen Schriften erst zu generieren versuchte. Aufschlussreicher wäre die Überlegung gewesen, weshalb sich die Forschung heute wieder mit dem Thema der 'Demokratisierung der bildenden Künste' beschäftigt. Worin könnte dessen Aktualität bestehen und wie wäre - gesetzt den Fall - 'Demokratisierung' neu zu definieren? Solche gedanklichen Anstöße zu liefern, ist unter anderem das Verdienst von Pietschs Arbeit, die der Forschung sicher neue Wege weisen wird.
Anmerkung:
[1] Robert Scherkl: Charles Blancs Musée des Copies. Kopien wie Originale?, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte 63 (2000), 358-371.
Marion Bornscheuer