Rezension über:

Marcus Pyka: Jüdische Identität bei Heinrich Graetz (= Jüdische Religion, Geschichte und Kultur; Bd. 5), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2009, 333 S., ISBN 978-3-525-56994-8, EUR 49,90
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Rezension von:
Dieter Langewiesche
Historisches Seminar, Eberhard Karls Universität, Tübingen
Redaktionelle Betreuung:
Nils Freytag
Empfohlene Zitierweise:
Dieter Langewiesche: Rezension von: Marcus Pyka: Jüdische Identität bei Heinrich Graetz, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2009, in: sehepunkte 9 (2009), Nr. 4 [15.04.2009], URL: https://www.sehepunkte.de
/2009/04/12484.html


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Marcus Pyka: Jüdische Identität bei Heinrich Graetz

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Heinrich Graetz, einer der wirkungsmächtigsten jüdischen Historiker, ist von der deutschen Geschichtswissenschaft nie als einer der ihren akzeptiert worden, obwohl er der erste Historiker war, der sich beruflich ganz der Geschichte des Judentums widmen konnte, seit er 1854 zum Dozenten an das Breslauer Jüdisch-theologische Seminar berufen wurde. Dort hat er eine große Zahl jüdischer Wissenschaftler geprägt, die Lehrer oder Rabbiner wurden. Ihnen bot das Seminar ein Talmudstudium auf der Grundlage moderner wissenschaftlicher Methoden, verbunden mit einem Universitätsstudium und vielfach auch einem Doktorat an der Universität. Beruflich blieb sie ihnen wie ihrem Lehrer verschlossen.

Graetz' Lebensweg wird durch diese vorzügliche Münchner Dissertation, betreut von Michael Brenner, erstmals umfassend erschlossen. Die alltägliche Lebenswelt wird allerdings nur begrenzt sichtbar; dazu fehlen die Quellen. Im Zentrum steht "die Entwicklung seines Denkens" (26), das Pyka anhand aller verfügbaren Zeugnisse analysiert und stets in das gesamte gesellschaftliche Umfeld einbettet. Drei aufeinander bezogene Linien ziehen sich durch das Werk: Graetz' individuelle Suche nach einer zeitgemäßen jüdischen Identität; die Entwicklung eines eigenen, innovativen Konzepts von jüdischer Geschichte; der Wille, aus der Geschichte einen unabänderlichen Kern des Judentums abzuleiten und einem breiten Publikum zu vermitteln. Geschichtsschreibung als Orientierungsmacht und als Handlungsanweisung - dieser Mission hatte sich Graetz verschrieben. Darin stimmte er mit dem nichtjüdischen Hauptstrom der damaligen Geschichtsschreibung überein. Sie war Teil einer Geschichtskultur, die der Gesellschaft in einer Zeit dynamischen Wandels Rückhalt an der Vergangenheit versprach. Es waren unterschiedliche Vergangenheiten, die in den protestantisch-nationalen, den katholischen, den jüdischen und den sozialistischen Milieus entworfen wurden, doch überall zielten sie auf Zukunftssicherheit durch Geschichtsdeutung.

Diese intentionalen Gleichläufigkeiten über alle Milieus und ihren wechselseitigen Aversionen hinweg sichtbar zu machen, gehört zu den Vorzügen dieser Studie. Indem Pyka das Leben und Werk von Graetz in die Entwicklungen der nichtjüdischen Mehrheitsgesellschaft einordnet, gelingt es ihm, die üblichen historiographischen Trennlinien zu überwinden. Die innerjüdischen Veränderungsprozesse erhalten deutlichere Konturen, aber auch die im nichtjüdischen Umfeld, und beides wird miteinander verbunden. Wie dies geschieht, ist auch methodisch gelungen.

Die drei Hauptteile folgen dem Lebensweg, der in drei Identitätsperioden unterteilt wird: Suchen, Festlegen, Gewissheit. In jedem Teil werden die biographischen Entwicklungen mit den wissenschaftlichen verwoben. Pyka unterscheidet zwei Formen von Identität, die Graetz' Leben und Werk prägten: eine situative, in der Graetz sein Judentum je nach der Umwelt, in der er sich bewegte, anders empfand - in Posen anders als in Breslau oder Oldenburg, der vom Scheitern bedrohte, mit der Welt hadernde zornige junge Mann anders als der beruflich und familiär Etablierte -; und daneben eine die ganze Person umfassende, essentialistische Vorstellung, die von einer unwandelbaren Idee des Judentums ausging. Dass Graetz diese zeitlose Kollektividentität des Judentums einer Geschichtsdeutung abgewann, die - wie die Tübinger Schule in ihrer Analyse des frühen Christentums - alle tradierten Glaubenswahrheiten quellenkritisch überprüft und sie der historischen Analyse ausliefert, verbindet sein historiographisches Werk mit dem der großen Gestalten der deutschen Geschichtswissenschaft seiner Zeit. Auch sie verbanden ihren wissenschaftlichen Objektivitätsanspruch mit dem Willen, der Gesellschaft die Geschichte als Orientierungsmacht zu erschließen. Pyka erläutert dies u.a., indem er die Gründungsprogramme der Historischen Zeitschrift und der Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judenthums vergleicht. Durch Wissenschaft Identität zu schaffen, galt beiden nicht als Widerspruch. Sie wollten wissenschaftlich wirken und zugleich gesellschaftlich.

Popularisierung bestimmt Pyka als ein Hauptziel der Geschichtsschreibung von Graetz. Auch darin stimmte er mit den Repräsentanten der deutschen Geschichtswissenschaft seiner Zeit überein. Popularisierung, so erläutert Pyka anhand der neueren Forschung zu diesem Bereich, meint nicht, für Fachkollegen geschriebene Texte einem breiteren Publikum zu vermitteln, sondern den Text von vornherein auf diese Wirkungsabsicht anzulegen. Es geht um "Popularisierung von Geschichtswissen in identitätsstiftender Absicht" (209).

Pyka zeigt dies eindringlich an dem Entstehungsprozess von Graetz Hauptwerk, seiner seit 1853 erscheinenden Geschichte der Juden von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart. Übersetzt in etliche Sprachen und mehrfach neu aufgelegt, z.T. überarbeitet und erweitert, und durch eine "Volkstümliche" Ausgabe ergänzt, hat dieses große Werk die Vorstellungen vom Judentum und seiner Geschichte lange Zeit maßgeblich bestimmt. In präziser Detailanalyse erhellt Pyka, wie sich in der Arbeit an den elf Bänden die Konzeption veränderte. Graetz' "Meistererzählung" bestimmt er als eine "Passionsgeschichte" (246) - aber nicht in der Weise, wie es meist gesehen wurde: keine bloße Leidensgeschichte. Die jüdische Geschichte in der Diaspora erfasste Graetz in der Allegorie "Knechtsgestalt mit Denkerstolz" (245). Er besetzte die jüdische Geschichte positiv, zeichnete sie als ein aktives Leiden, mit dem sich das jüdische Volk ein "geistiges Vaterland" (Graetz, 250) aus eigener Kraft erschaffen habe und seiner Sendung, seinem "Apostelamte", (Graetz, 256) gerecht geworden sei. "Stamm", "Volk" und "Nation" verwendete Graetz unterschiedslos, die spätere ethnisch-biologische Aufladung dieser Begriffe hat er nicht antizipiert.

Zu den vielen Gemeinsamkeiten, die Graetz mit dem geschichtskulturellen Mehrheitsstrom verbanden, gehörte die Überzeugung: Wissenschaft ist männlich, und die Geschichte ist es auch. Aktive Frauen ließ er "fast immer" (263) als Schurkinnen auftreten; Frauen adelte ihre Passivität. Das Wesen des Judentums zeichnete Graetz männlich und "dezidiert heterosexuell" (269); den bürgerlichen Tugendkatalog universalisierte er in die Geschichte der Juden hinein.

Sittlichkeit bestimmt Pyka als den unveränderlichen Kern jüdischer Kollektividentität, die Graetz aus der Geschichte erschließe und auf die er seine Meistererzählung angelegt habe. Geschichte, wie sie Graetz in seinem Hauptwerk konstruierte, war nicht mehr teleologisch angelegt, wie in seinen frühen Studien, sondern das Wesen des Judentums entstand aus der Art seiner Erzählung. Damals allerdings sei diese Essenz - Judentum als Sittlichkeit - nicht erkannt und rezipiert worden. Das allerdings würde eine Folgerung nahelegen, die Pyka nicht zieht: Graetz wäre mit seiner zentralen Idee gescheitert. Sein Publikum, die Fachleute ebenso wie die Geschichtslaien, erkannten sie nicht. Ist das eine plausible Annahme gegenüber einem Autor, der, wie Pyka überzeugend darlegt, zu einem der Hauptakteure in der damaligen jüdischen Geschichtskultur wurde? Wenn Graetz Sittlichkeit als die "Essenz jüdischer Kollektividentität" (276) bestimmte, dann hätte er ein Kriterium gewählt, das nicht geeignet war, das Judentum von der nichtjüdischen Mehrheitsgesellschaft abzugrenzen. Denn auch der bürgerliche Tugendkatalog war auf sie ausgerichtet. Die Universitäten zum Beispiel begriffen sich als Bildungsstätten, deren innere Einheit trotz der enorm wachsenden Fächervielfalt durch die gemeinsame Verpflichtung auf die Wahrheit als einer sittlichen Idee garantiert werde. Wenn Graetz Sittlichkeit ins Zentrum des Judentums rückte, wählte er ein Distinktionsmerkmal, das nicht geeignet war, vom bildungsbürgerlichen Selbstbild der Mehrheitsgesellschaft zu unterscheiden.

Dieter Langewiesche