Rezension über:

Andrea Rapp / Michael Embach (Hgg.): Rekonstruktion und Erschließung mittelalterlicher Bibliotheken. Neue Formen der Handschriftenpräsentation (= Beiträge zu den Historischen Kulturwissenschaften; Bd. 1), Berlin: Akademie Verlag 2008, X + 186 S., ISBN 978-3-05-004320-3, EUR 49,80
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Rezension von:
Bettina Wagner
Bayerische Staatsbibliothek, München
Redaktionelle Betreuung:
Christine Reinle
Empfohlene Zitierweise:
Bettina Wagner: Rezension von: Andrea Rapp / Michael Embach (Hgg.): Rekonstruktion und Erschließung mittelalterlicher Bibliotheken. Neue Formen der Handschriftenpräsentation, Berlin: Akademie Verlag 2008, in: sehepunkte 9 (2009), Nr. 4 [15.04.2009], URL: https://www.sehepunkte.de
/2009/04/12962.html


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Andrea Rapp / Michael Embach (Hgg.): Rekonstruktion und Erschließung mittelalterlicher Bibliotheken

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Der schmale Band eröffnet eine neue Reihe des Historisch-Kulturwissenschaftlichen Forschungszentrums Mainz-Trier und versammelt die Beiträge einer Tagung, die am 28. und 29. April 2006 in Trier stattfand. Einleitend skizzieren die Organisatoren Andrea Rapp und Michael Embach die Ergebnisse des Workshops, den sie in eine "historische" und eine "technologische" Sektion gliedern. Von ihnen stammt auch der letzte Aufsatz des Bandes, der am Beispiel der Trierer Benediktinerabtei St. Matthias die Ziele der "Rekonstruktion und Erschließung mittelalterlicher Bibliotheken" darstellt. Beide Beiträge sind von großer Zuversicht in die neuen Möglichkeiten geprägt, die durch die elektronische Bereitstellung von Handschriften im Internet eröffnet werden - sei es in Form von Beschreibungen, neudeutsch "Metadaten", oder als digitale Reproduktionen der Handschriften selbst, von den Herausgebern wie vielfach üblich, aber etwas irreführend als "Volltextdigitalisierung" bezeichnet. Es geht nämlich nicht etwa um die Konversion mittelalterlicher Schriften mittels der Technik der Optical Character Recognition (OCR) in vollständig recherchierbaren elektronischen Text, sondern lediglich um das Scannen bzw. digitale Fotografieren vollständiger Handschriften und die Präsentation der so erzeugten "images" im Internet.

Zweifellos stellen diese - von der Deutschen Forschungsgemeinschaft in zahlreichen Projekten seit gut einem Jahrzehnt intensiv geförderten und von den Bandherausgebern öffentlichkeitswirksam präsentierten [1] - neuen technischen Möglichkeiten eine enorme Erleichterung für jede quellenbasierte Erforschung des Mittelalters dar. Bei aller Freude über die Möglichkeiten eines umfassenden, ortsunabhängigen und jederzeitigen Zugriffs auf digitalisierte Handschriften bleiben aber gewisse Vorbehalte gegenüber dem Fortschrittsoptimismus der Bandherausgeber bestehen. Die Behauptung, "dass grundlegende Studien zum Bestand, zur Geschichte und zur Funktion solcher [mittelalterlicher, BW] Bibliotheken praktisch nicht zustande kommen" (147) kann angesichts der über hundertjährigen Geschichte der mediävistischen Bibliotheksforschung nur verblüffen. Denkt man an große Namen der Vergangenheit wie Paul Lehmann, Paul Ruf, Hermann Herbst, Klemens Löffler, Bernhard Bischoff oder Richard Stauber (um nur einige zu nennen), aber auch an neuere Arbeiten über westfälische Klosterbibliotheken oder die Sammlung des Augsburger Humanisten Konrad Peutinger, so erscheint die Lage nicht ganz so hoffnungslos, wie sie die Herausgeber - vielleicht aus einer gewissen Projektantragsrhetorik heraus - schildern.

Wichtiger als eine derartige Überbietungstopik erscheint angesichts der gegenwärtigen, durch technischen Wandel und die daraus resultierende "Demokratisierung" des früher nur einer wissenschaftlichen Elite unmittelbar zugänglichen mittelalterlichen Dokumentenerbes geprägten Zeit eine kritische und kenntnisreiche methodische Reflexion über "Erschließung und Rekonstruktion mittelalterlicher Bibliotheken". Dass die präzise Analyse der erhaltenen Handschriften die Voraussetzung jeder Rekonstruktion mittelalterlicher Bibliotheken darstellt, bleibt im Band zwar unausgesprochen, liegt aber den Beiträgen erfahrener Handschriftenforscher als Grundannahme zugrunde. An den Fallstudien von Eef Overgaauw (7-16), Reiner Nolden (17-22) und Thomas Falmagne (65-74) wird deutlich, welche mühsame Kleinarbeit bei der Provenienzbestimmung von Handschriften zu leisten ist, aber auch, welche Erkenntnisse aus den erhaltenen, vielfach allerdings stark dezimierten Sammlungen zu gewinnen sind. Noch größer werden die Schwierigkeiten, wenn nicht intakte Codices, sondern nur "Schnipsel" (49) Gegenstand der Untersuchung sind, wie im von Andreas Lehnardt vorgestellten Forschungsprojekt zur Bestandsaufnahme und Erschließung der "hebräische[n] und aramäische[n] Einbandfragmente in Mainz und Trier" (45-64). Angesichts der hohen Anforderungen, die heute an Handschriften-Katalogisierer herangetragen werden, plädiert der belgische Altmeister der Handschriftenkunde Albert Derolez (105-117) für eine pragmatische Beschränkung bei der Beschreibung mittelalterlicher Buchbestände.

Wiederholt (und völlig zu recht) wird in den Beiträgen die Bedeutung mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Bibliothekskataloge für die Rekonstruktion der ehemaligen Bestände hervorgehoben. Die "Sachordnungen mittelalterlicher Bibliotheken" stehen im Mittelpunkt des Aufsatzes von Frank Fürbeth (87-103), der betont, "dass Grundtypen mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Sachordnung quer zu den institutionellen Typen verlaufen, man also vielleicht gar nicht von klösterlichem vs. universitärem vs. privatem Bibliothekstyp sprechen sollte" (93) - eine bedenkenswerte und fundierte Warnung vor vermeintlich klaren Befunden. Den Bogen von der Bibliotheksordnung zum Bibliotheksraum schlägt der Beitrag von Marco Rösch zum "historische[n] Bibliothekssaal des Augustiner-Chorherren-Klosters Eberhardsklausen" (23-44). Röschs Versuch, die malerische Ausstattung auf das "Bildungsprogramm der 'Devotio Moderna'" (36) zu beziehen, bedarf allerdings noch der Gegenüberstellung zur "allgemeinen monastischen Tradition" (S. 36). Da kein spätmittelalterlicher Bibliothekskatalog aus Eberhardsklausen erhalten ist, muss auch die Frage nach Bezügen zwischen dem Bildprogramm und der Aufstellungssystematik der Bücher offen bleiben. Mit einem weiteren Feld, nämlich den "kulturgeschichtlichen Fragestellungen an die Trierer mittelalterlichen Bibliotheksbestände" (75) befasst sich der Beitrag von Silke Diederich (75-86). Er bietet eine gut strukturierte Zusammenstellung, die bei der ersten Annäherung an das Thema sicher hilfreich ist.

Mit acht Beiträgen hat also die "historische Sektion" des Bandes ein deutliches Übergewicht gegenüber der "technologischen". Letztere umfasst Beiträge von Eva Effertz zur "Handschriftenerschließung aus Sicht der Deutschen Forschungsgemeinschaft" (119-125), im einleitenden Beitrag der Herausgeber bezeichnenderweise auf "Handschriftendigitalisierung" (4) reduziert. Als Folge der 2001 von der DFG vorgelegten "Neuen Konzepte zur Handschriftenerschließung" hat eine Neuorientierung stattgefunden; den aktuellen Stand dokumentiert das Positionspapier der deutschen Handschriftenzentren, das in Heft 14/1 (2009), S. 140-148, der Zeitschrift 'Das Mittelalter' publiziert wurde. Die beiden anschließenden Aufsätze von Alessandra Sorbello Staub zu den "virtuellen Bibliotheken der Bayerischen Staatsbibliothek München" (127-135) und von Bärbel Kramer zu den Trierer Papyri (137-145) stehen mit dem Thema der Tagung und des Sammelbandes allenfalls in lockerem Zusammenhang.

Der abschließende Beitrag der Herausgeber verbindet "historische" und "technologische" Aspekte und fungiert so zugleich als Fazit und Ausblick. Das von ihnen geplante Projekt zur Bibliothek der Trierer Benediktinerabtei St. Matthias kann sich auf umfangreiche Vorarbeiten insbesondere von Petrus Becker (publiziert 1996 in der 'Germania Sacra') stützen. Ziel ist, die 412 erhaltenen Handschriften im Internet zugänglich zu machen. Erst unter Einbezug der frühneuzeitlichen Drucke (erhalten sind auch 479 Inkunabeln) und der verlorenen, aber im historischen Katalog von 1530 verzeichneten Bestände wird aber eine aussagekräftige Rekonstruktion der Klosterbibliothek möglich sein - mit der gebotenen Differenzierung zwischen der langfristigen Entwicklung seit der Gründung des Benediktinerkonvents im 10. Jahrhundert und der Momentaufnahme aus der Reformationszeit. Eine Digitalisierung der erhaltenen Handschriften und elektronische Bereitstellung der Beschreibungen kann nur einen, wenn auch zweifellos äußerst nützlichen Schritt auf diesem Wege darstellen.


Anmerkung:

[1] So z.B. in einem ganzseitigen Beitrag in der FAZ vom 5. August 2008, Seite 37. Richtigzustellen ist zumindest die dort getroffene Behauptung, die Handschriftendatenbank 'Manuscripta Mediaevalia' sei an der Universität Heidelberg angesiedelt; tatsächlich wird die Datenbank gemeinsam von den Staatsbibliotheken in Berlin und München und dem Bildarchiv Foto Marburg betrieben. Der vorliegende Tagungsband wurde von Michael Borgolte in der FAZ vom 16. Juni 2008 besprochen.

Bettina Wagner