Rezension über:

Alfred Hagemann: Wilhelmine von Lichtenau (1753-1820). Von der Mätresse zur Mäzenin (= 9), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2007, VII + 331 S., 147 Abb., ISBN 978-3-412-24006-6, EUR 49,90
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Rezension von:
Sigrid Ruby
Kunstgeschichtliches Institut, Philipps-Universität, Marburg
Redaktionelle Betreuung:
Hubertus Kohle
Empfohlene Zitierweise:
Sigrid Ruby: Rezension von: Alfred Hagemann: Wilhelmine von Lichtenau (1753-1820). Von der Mätresse zur Mäzenin, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2007, in: sehepunkte 9 (2009), Nr. 4 [15.04.2009], URL: https://www.sehepunkte.de
/2009/04/13436.html


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Alfred Hagemann: Wilhelmine von Lichtenau (1753-1820)

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Wilhelmine Enke, Gräfin von Lichtenau, ist ohne Zweifel eine der interessantesten Personen der preußischen Kulturgeschichte. Man kennt sie aus historischen Romanen, Filmen und berlinisch-brandenburgischen Reiseführern. Es ist eine zwischen Wahrheit und Fiktion schillernde, immer etwas halbseiden anmutende Erinnerung, wie sie üblicherweise den "Mätressen der Weltgeschichte" zuteil wird. [1] Als frivole Gegenspielerin der liebreizenden Luise von Preußen steht "die Lichtenau" emblematisch für die letzte Phase eines überkommenen, in jeder Hinsicht als ausschweifend imaginierten Absolutismus. Diesen löste am Übergang zum 19. Jahrhundert eine Staatsauffassung ab, die bürgerlichen Werten verpflichtet war und in idealisierten Bildern des jungen Königspaares ihren gültigen Ausdruck fand. [2] Gegen diese polarisierende Sichtweise ist einzuwenden, und das macht das Phänomen der Mätresse gerade im Zeitalter der Aufklärung so interessant, dass das enge Verhältnis Friedrich Wilhelms II. mit Wilhelmine Enke offenbar auf Geistesverwandtschaft und Freundschaft basierte, also eine nachgerade "moderne" Partnerschaft darstellte. Sittenwidrig an ihrer Beziehung waren der Standesunterschied und die daraus resultierende Ehelosigkeit.

Dass "die Lichtenau" vielleicht nur bedingt zu einer Symbolfigur absolutistischer Herrschaft taugt, bestätigt die Monografie von Alfred P. Hagemann. Es ist die erste seriöse Studie zum Leben und Wirken dieser Frau, die über viele Jahre hinweg bis zu seinem Tod 1797 die engste Gefährtin Friedrich Wilhelms II. von Preußen war. Besonders erstaunlich ist der Befund, dass Wilhelmine Enke bei ihrem vornehmlich auf die Innenraumkunst konzentrierten Engagement im Lauf der Zeit immer mehr auf die schlichte, Bescheidenheit signalisierende Eleganz des Berliner Klassizismus setzte. Damit begab sie sich in große stilistische Nähe zu dem sie gleichwohl zutiefst verachtenden Kronprinzenpaar.

Hagemann definiert als sein vorrangiges Ziel, "den Vermutungen über die Bedeutung Lichtenaus für Kunst und Architektur der Regierungszeit Friedrich Wilhelms II. eine wissenschaftliche Untersuchung entgegenzustellen." Dadurch soll ein neuer Blick auf die königliche Favoritin im Kontext der preußischen Kunstgeschichte ermöglicht werden. Das Beispiel Lichtenau dient Hagemann aber auch dazu, die damalige "Rolle der Auftraggeberschaft zu untersuchen und so die traditionell künstlerzentrierte Sichtweise aufzubrechen." (3)

Die gestellten Aufgaben meistert Hagemann kenntnisreich und auf der Grundlage sorgfältiger Quellenarbeit. Das erste Hauptkapitel gilt der Biografie Lichtenaus. Akzentuiert werden die markanten Wendepunkte ihres Lebens und die damit einhergehenden Rollenverschiebungen. Im zweiten Teil kann Hagemann aufzeigen, wie die Favoritin sich von einer treuen Schülerin Friedrich Wilhelms II. in Geschmacksfragen zu einer höchst unabhängigen, von ihrem königlichen Mentor immer weniger beeinflussten Auftraggeberin entwickelte. Diese Entwicklung als eine "von der Mätresse zur Mäzenin" aufzufassen, wie es der Buchuntertitel nahelegt, ist allerdings unglücklich. Die beiden Rollen schließen sich nicht aus, sondern sind vielmehr als wechselhaft miteinander verknüpfte Facetten von Enkes Identität zu sehen. Auch wäre wohl zwischen Mäzenin und Auftraggeberin deutlicher zu differenzieren.

Die Favoritin konzentrierte ihr Engagement in Kunstdingen zunächst auf ihr Sommerhaus in Charlottenburg (ab 1788), das vermutlich dem Architekten Michael Philipp Boumann (1747-1803) zuzuschreiben ist. Enke beschäftigte Boumann auch bei weiteren Bauvorhaben und ihrer Förderung verdankt sich wohl sein Aufstieg innerhalb der preußischen Architektenschaft. Das Haus in Charlottenburg orientierte sich in der Außen- wie Innengestaltung an den königlichen Bauten und es waren in Diensten Friedrich Wilhelms stehende Künstler und Handwerker, die die Arbeiten ausführten. Auch der mit mehreren Kleinarchitekturen angereicherte Landschaftsgarten entsprach dem Geschmack der königlichen Familie. Aber schon bei Enkes Palais Unter den Linden, das sie ab 1792 mit Genehmigung Friedrich Wilhelms für die gemeinsame Tochter aus- und umbauen ließ, zeigt sich die gewachsene Eigenständigkeit der Favoritin. Hagemann nennt sie in seinem Fazit trefflich eine "konzeptionierende Auftraggeberin" (305). Die Bauinschrift an dem mit einem ungewöhnlich großen Theater ausgestatteten Berliner Palais verkündete, dass "Wilhelmine Ritz geboren Encken" hierfür die "Veranlassung [...] nebst den Ideen gab." (102)

Die Favoritin hatte 1782, auf Wunsch des Königs, dessen engen Vertrauten Johann Friedrich Ritz geheiratet bzw. heiraten müssen. Der bürgerliche Ritz war 1786 zum Verwalter der königlichen Privatgelder ernannt worden und 1790 übertrug Friedrich Wilhelm II. ihm die direkte Befehlsgewalt über das gesamte Bauwesen. Für das hoch in der fürstlichen Gunst stehende Ehepaar Ritz war es somit leicht, auf die königlichen Bauprojekte Einfluss zu nehmen. Zumal Friedrich Wilhelms Engagement für die Künste auch wegen seiner Verpflichtungen an diversen Kriegsschauplätzen ab 1792/93 erlahmte. Schon zuvor hatte er sich von seiner Favoritin in Ausstattungsfragen beraten lassen. Fortan bekam sie weitgehend freie Hand bei der Gestaltung seines Neuen Gartens in Potsdam, bei der Innenausstattung des Marmorpalais, bei der Neueinrichtung des königlichen Jagdschlosses Grunewald und schließlich auch bei dem Bau und der Innenausstattung des pseudoruinösen Ensembles auf der Pfaueninsel. Die Insel sollte ein Refugium der Liebe im Sinne von Freundschaft darstellen. Der Dekor ausgewählter Räume betonte die Stärke von Frauen und ihre aufopferungsvolle Unterstützung von großen Männern. Hagemann schildert ausführlich die Ausstattung der einzelnen Schlosszimmer nach den Anweisungen Enkes. Die Favoritin war wohlinformiert über neueste Entwicklungen im Bereich der Innenraumkunst und führte auf der Pfaueninsel 1794 unter anderem die Mode der ein- oder mehrfarbig bedruckten Papiertapeten ein. Dass sich "die Lichtenau" schon in dieser Phase in einer Art Günstlingskonkurrenz mit ihrem Ehemann sah und dabei durchzusetzen wusste, ist ein interessanter Aspekt. Ritz' eminente Bedeutung innerhalb der königlichen Bauverwaltung und sein persönliches Profil als Auftraggeber wird leider erst im letzten Teil des Buches etwas ausführlicher geschildert. Die Ausführungen Hagemanns zeigen, dass Ritz in künstlerischen Fragen eher konservativ und seinem königlichen Gönner treu blieb, während die Gemahlin zunehmend eigene Wege ging. Hier hätte es Ansatzpunkte für eine stärker geschlechtergeschichtlich ausgerichtete Untersuchung gegeben, bei der auch der besondere Status Enkes als Favoritin präziser hätte erfasst werden können.

Wichtig für ihre wachsende Unabhängigkeit war die ausgedehnte Italienreise, die Wilhelmine Enke im Mai 1795 antrat. Auf dieser Grand Tour machte sie Bekanntschaft mit namhaften Intellektuellen und Künstlern, die sie zum Teil förderte und an deren Arbeiten sie ihr Qualitätsbewusstsein fortbildete. Enkes Führer und Berater in Rom war der Archäologe Aloys Ludwig Hirt. Sie brachte ihn im Mai 1796 mit nach Berlin, verschaffte ihm eine Akademiemitgliedschaft und machte ihn zu ihrem künstlerischen Berater. Es gab Pläne für eine Neuorganisation des königlichen Kunstbesitzes in einem Museum, die jedoch nicht realisiert wurden. Umgesetzt wurde aber unter anderem die von Enke, seit April 1796 Gräfin von Lichtenau, konzipierte Innenraumgestaltung der neu errichteten Seitenflügel im Potsdamer Marmorpalais. Das ikonografische Programm wurde in Abstimmung mit Hirt entwickelt und galt der Zurschaustellung eines an Antike und italienischer Kultur geschulten Bildungsbewusstseins.

Der dritte Teil von Hagemanns Studie gilt "Lichtenau als Auftraggeberin" und wäre vermutlich besser mit der Schilderung der einzelnen Projekte im zweiten Hauptkapitel verwoben worden. Neben allgemeinen Aspekten der Auftraggeberschaft am preußischen Hof wird noch einmal dezidiert der soziale Kontext von Lichtenaus Engagement beleuchtet. Ihre Konzentration auf die künstlerische Innenraumgestaltung, sei es in Bauten des Königs, sei es in ihren eigenen, konnte nicht verhindern, dass eine größere Öffentlichkeit der Vorstellung von einer prunksüchtigen und verschwenderischen Mätresse auch weiterhin anhing. Ob Lichtenaus stilistische Eigenständigkeit das Ziel hatte, "ihre Emanzipation vom König zu fördern, seine Achtung und Anerkennung zu gewinnen und dadurch ihre Position [...] zu wahren" (252) bleibt fraglich. Vielleicht war sie auch nur in einem ganz modernen Sinne ehrgeizig und - als Bürgerliche - erpicht auf "kulturelles Kapital". Hagemann spricht in dem Zusammenhang auch von der "Kunst als Medium [einer] neuen Leistungsideologie." (252) Hier war Lichtenau erfolgreich, denn in der Umbruchphase vom Wörlitzer Früh- zum Berliner Hochklassizismus um 1795 galt ihre Innenraumkunst als ausgesprochen avanciert und erwies sich als wegweisend für die Zukunft. Sie deshalb als Künstlerin zu bezeichnen, lehnt Hagemann zu Recht ab. Wilhelmine Enke, Gräfin von Lichtenau, war vielmehr die "bestimmende kreative Kraft in einer Reihe von komplexen Entwurfsprozessen, die auch ohne Künstler in einigen der bedeutendsten [...] Kunstwerken der preußischen Innenarchitektur resultierten." (305)


Anmerkungen:

[1] Vgl. z.B. Hermann Schreiber: Mätressen der Weltgeschichte, Augsburg 2003 (1967), hier auch zu Wilhelmine Enke, 247-261.

[2] Vgl. Holger Simon: Die Bildpolitik des preußischen Königshauses im 19. Jahrhundert. Zur Ikonografie der preußischen Königin Luise (1776-1810), in: Wallraf-Richartz-Jahrbuch LX (1999), 231-262. S.a. Sigrid Ruby: Mutterkult und femme fatale, in: Geschichte der bildenden Kunst in Deutschland, Bd. 7, hg. von Hubertus Kohle, München 2008, 510- 517.

Sigrid Ruby