Ernst R. Schwinge: Komplexität und Transparenz. Thukydides: Eine Leseanleitung, Heidelberg: Universitätsverlag Winter 2008, 182 S., ISBN 978-3-8253-5451-0, EUR 35,00
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In den letzten Jahren konnte insbesondere die Thukydides-Forschung vom allgemein zunehmenden Interesse an der antiken Historiografie profitieren. Allein im vergangenen Jahrzehnt sind in dichter Folge mehrere Monografien erschienen, die erheblich zur Erschließung des Geschichtswerks des athenischen Historikers beigetragen haben, und auch in aktuellen Arbeiten zu späteren Geschichtsschreibern zeigt sich immer wieder die singuläre Bedeutung des Chronisten des Peloponnesischen Krieges.
Das schmale, aber ausgesprochen gehaltvolle Büchlein des emeritierten Kieler Gräzisten Ernst-Richard Schwinge ordnet sich in diesen Trend ein. Es geht dem Autor dabei keineswegs darum, eine umfassende Thukydides-Monografie vorzulegen, sondern sein Anspruch ist bescheidener. Das Buch wird sehr vorsichtig eingeführt als "eine [...] Art Leseanleitung [...], über die eine Annäherung an Thukydides eventuell erleichtert wird" (5). Konkret geht es dem Autor darum, anhand einer Analyse der Bücher 3-7, die er als Kernstück des thukydideischen Werkes ansieht, der Frage nachzugehen, mit welchen Techniken der antike Historiker seinem Publikum vermittelt hat, dass es sich beim Peloponnesischen Krieg um die größte bis zu diesem Zeitpunkt bekannte Auseinandersetzung gehandelt habe; Schwinge verfolgt also letztlich die Frage, wie Thukydides eines der zentralen Anliegen seines Werkes umgesetzt hat. Methodisch hat er dabei vor allem auf narratologische Theoreme zurückgegriffen, ohne freilich (und dies stellt eine bewusste Entscheidung dar) einen konsequent narratologischen Ansatz zu verfolgen.
Fünf größere Kapitel geben Aufschluss über grundlegende Erzähltechniken des athenischen Historikers. In einem einleitenden Abschnitt zu Theorie und Methode des Thukydides wird sehr anschaulich seine von Vorannahmen und spezifischen Perspektiven geleitete Vorgehensweise erläutert, die trotz eines geradezu obsessiven Bemühens um 'Objektivität' und Nachprüfbarkeit des Berichteten dem hermeneutischen Zirkel nicht entkommen kann. Anerkennenswert sei dennoch, so Schwinge, wie bemüht der Historiker bei der Erforschung der Vergangenheit um die 'Tekmerien' gewesen sei (die dann aber trotzdem auf Basis feststehender Vorannahmen gedeutet worden seien) und mit welcher Akribie er das Material für seine zeitgeschichtliche Darstellung ausgewertet habe (freilich aus seiner eigenen Sicht). Zwar könne man ihm letztlich 'nur' eine "konstruktive [...] Eigenaktivität" bescheinigen (26), doch beruhe seine eigentliche methodische Leistung im konsequenten Bemühen, so nah wie irgend möglich an das Geschehene heranzukommen (29-33).
Die anschließenden Kapitel versuchen aufzuzeigen, dass das Arbeiten mit "Geschehenssträngen" als eine zentrale Technik des Thukydides zur Illustration der singulären Größe des Krieges anzusehen sei. Um den Krieg als "größte Bewegung" (megíste kínesis) darzustellen, habe der Historiker vor allem die Gleichzeitigkeit verschiedener Ereignisse an unterschiedlichen Schauplätzen deutlich akzentuiert. Um dabei aber nicht innere Zusammenhänge aufzulösen und so Komplexität zu reduzieren, sei dies nicht in der von Thukydides selbst etwa an Hellanikos kritisierten annalistischen Darstellungsweise erfolgt, sondern in Form zusammenhängender, mehrfach unterbrochener und dadurch kunstvoll ineinander verwobener "Geschehensstränge", deren Geflecht zum ersten Mal im 3. Buch hervortritt, weshalb diesem die ersten Analysen des Verfassers gelten: "Für Thukydides organisiert sich das Kriegsgeschehen zu einem chronologisch regulierten Neben- und Ineinander von Geschehenssträngen, welche praktisch ausnahmslos ein jeweils in sich geschlossenes Ganzes bilden" (52). Damit durch diese Technik nicht an anderen Punkten wieder Komplexität reduziert werde, habe der Historiker zusätzlich auf das Mittel der "Paradigmatisierung" zurückgegriffen: Jeder einzelne Strang verweise dabei auf den Krieg als Ganzes, indem er typologisch dessen grundlegende Charakteristika vorstelle - und zwar ebenso auf der formalen wie der inhaltlichen Ebene. So manifestiere sich etwa im Kerkyra-Strang, zu welchen menschlichen Abgründen ein Bürgerkrieg die Bevölkerung einer Polis leiten könne, während jeder einzelne der (in Buch 3 insgesamt fünf Geschehensstränge) Aspekte menschlichen Handelns unter den Bedingungen des Krieges beleuchte und dabei vor allem Grausamkeit und Leiden hervortreten lasse. Anders als lediglich aufgezählte Einzelereignisse, die immer nur punktuelles, kurzfristiges Leid darstellen könnten, präsentieren "Geschehensstränge hingegen, indem sie einen längeren, in sich abgeschlossenen Abschnitt des Kriegsgeschehens entfalten, [...] Leidensakkumulierungen als Resultat einer längeren Entwicklung und damit [...] als Konstitutivum von Kriegsgeschehen" (54). Inwieweit das Leid tatsächlich eindrücklich am Ende eines jeden Stranges im 3. Buch steht (beim Lesbos-Strang freilich nur als Potenzialität angedeutet), vermag der Autor im Folgenden anschaulich darzulegen, wobei sein besonderes Augenmerk u.a. den Momenten der erzählerischen Verdichtung gilt (54ff.).
Auch im anschließenden, dem 4. Buch gewidmeten Kapitel steht eine Analyse der - in diesem Fall acht - Geschehensstränge im Vordergrund. Im Gegensatz zu Buch 3, das Schwinge zufolge ganz im Zeichen des Leidens durch den Krieg gestanden habe (wobei unermessliches Leid für Thukydides eines der Kriterien für die exzeptionelle Größe 'seines' Krieges darstellte), liege der Akzent nunmehr auf der Tatsache, dass das Kriegsgeschehen sich länger hinzog, als man es von vergangenen Auseinandersetzungen her kannte (75f.). Auch diese These lässt sich mittels einer Untersuchung der einzelnen Stränge untermauern: Tatsächlich scheinen die Erzählkomplexe vor allem dem einen Ziel zu dienen, zu demonstrieren, wie der Krieg beständig "fortwuchert" (98, vgl. auch 114).
Dem 'faulen Frieden' und seinen einzelnen Phasen gilt die Aufmerksamkeit im folgenden Kapitel. Im Fokus stehen nun nicht mehr so sehr einzelne Geschehensstränge als die erzählerischen Techniken, mit denen Thukydides die Phase der gegenseitigen Verdächtigungen und des zunehmenden Misstrauens sich ausweiten lässt zu punktuellen Aktionen, in denen die Parteien sich gegenseitig Schaden zufügten - und schließlich: zum Umschlagen des verdeckten in offenen Krieg. Schwinge sieht in der Darstellung dieses Moments und seiner konzeptuellen Erfassung durch Thukydides eine Spiegelung der Entstehung des großen Krieges insgesamt (166) und vermag damit einmal mehr die außergewöhnlichen darstellerischen Fähigkeiten des Historikers offenzulegen.
Im Vordergrund des letzten Kapitels steht die Sizilische Expedition, die Schwinge konzeptionell noch dem 'faulen Frieden' zuweist; doch habe sie sich als spezifische Phase der Friedenszeit (unter dem Aspekt der gegenseitigen Schadenszufügungen) so sehr ausgewachsen, dass sie sich in der Konzeption des Geschichtswerks als eigenständige, geschlossene Erzähleinheit zwischen Nikiasfrieden und Ionisch-Dekeleischen Krieg geschoben habe, in beide Phasen jedoch deutlich hineinragend. Schwinge sieht in der Sizilischen Expedition bei Thukydides erneut einen einzelnen Erzählstrang, der Aspekte herausarbeiten soll, die für den Krieg insgesamt kennzeichnend seien - und dies sei in diesem Fall einmal mehr das Leiden. Konsequenterweise interpretiert er daher die Mykalessos-Episode als programmatischen Vorverweis auf das Unternehmen der Athener, das von Beginn an im Zeichen zu erwartenden Leidens gestanden habe und dementsprechend dann auch bis in die Katastrophe verlaufen sei; es habe dabei "als Extremform des Krieges insgesamt" (der Verfasser verweist auf die Häufung von Superlativen in der Beschreibung der Sizilischen Expedition) "diesen paradigmatisch wahrnehmbar gemacht" (132), was Thukydides bekanntermaßen bis ins Äußerste darstellerisch gesteigert hat, zu einem "so furchtbare[n] Bild des Grauens, wie es literarisch nur selten Gestalt gewonnen hat" (154). Die Sizilische Expedition - und damit der Krieg insgesamt - waren "von Anfang bis Ende nichts als Leidensgeschehen" (160).
Mit der Herausarbeitung des paradigmatischen Erzählens in mehr oder weniger geschlossenen Geschehenssträngen hat der Autor auf eine bisher zu wenig beachtete Facette der thukydideischen Darstellungskunst verwiesen. Seine Anregungen sollten weiterverfolgt werden, wenngleich sie - aber das war auch nicht Schwinges Anspruch - nur einen Teilaspekt darstellen und keineswegs repräsentativ für das ungleich komplexere Gesamtgewebe sind. Freilich wären bei der konzeptuellen Fassung der Sizilischen Expedition auch andere Möglichkeiten zu erwägen gewesen. So plausibel der Ansatz anmutet, diese als Erzähleinheit von eigener Dynamik zwischen (und gleichzeitig zugehörend zu) Friedensphase und Dekeleischem Krieg zu deuten, so muss doch auch gefragt werden, wie in diesem Zusammenhang der Melierdialog (auf den Schwinge überhaupt nicht eingeht) zu bewerten ist. Ebenso wie Mykalessos programmatischen Charakter für die Sizilische Expedition besitzen mag, scheint mir dies auch für den Melierdialog zu gelten. Wenn dies aber der Fall wäre, dann wäre die Sizilische Expedition weniger organisch aus dem vorweggenommenen Leidensmotiv zu entwickeln, sondern eher (oder auch?) aus dem Gegensatz von Macht und Ohnmacht, der sich im Kontrast Melos - Athen (nach dem Ende des Sizilienunternehmens) spiegelt.
Mischa Meier