Leila Werthschulte: Heinrich der Löwe in Geschichte und Sage, Heidelberg: Universitätsverlag Winter 2007, 349 S., 36 Abb., ISBN 978-3-8253-5387-2, EUR 62,00
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Dieses Buch, eine Münchener sprach- und literaturwissenschaftliche Dissertation, verspricht mit seiner Themenstellung viel. Mutig setzt die Verfasserin bei den biographischen Voraussetzungen und zeitnahen Quellenzeugnissen (Helmold von Bosau, Arnold von Lübeck, Otto von Freising und Rahewin, Gerhard von Steterburg, Gottfried von Viterbo, Kölner Königschronik, Annalen aus Magdeburg, Pegau, Pöhlde) ein; wohl wissend, dass angesichts einer breit gefächerten und intensiven Forschung auf diesem Feld nur noch für Spezialisten die Chance der Originalität besteht, erzählt sie als kurze Einführung die Lebens- und Wirkungsgeschichte Heinrichs des Löwen. Nach einigen methodischen (nicht: "methodologischen") Vorüberlegungen aus Sicht der Literaturwissenschaft über Text und Bild sowie kurzen Bemerkungen zum Stand der Forschung wendet sie sich den historiographischen Werken zu und achtet dabei in erster Linie auf die "wahrgenommene Wirklichkeit" (25). Es geht also von vornherein und legitimerweise nicht um die mehr oder weniger gut rekonstruierbare Geschichte des Herzogs, sondern um das Bild, welches sich die einzelnen Autoren davon gemacht haben und warum sie das so und nicht anders taten. Der Leser ist gespannt, ob sich aus der Fragestellung eine konsistente Vorstellungshistorie ergeben wird, die Struktur einer über mehrere Jahrhunderte anhaltenden Rezeption.
Im Ergebnis ist der Verfasserin darin zuzustimmen, dass es neben der (wie üblich positiv und negativ, lobend oder kritisch dargestellten) historischen Person Heinrichs des Löwen bis in die Frühe Neuzeit die Sagengestalt gab. Wie aber ist dieses lange "Nachleben" zu erklären? Die Antwort fällt konventionell und entsprechend enttäuschend aus: Heinrich der Löwe war von hoher Abkunft, persönlich erfolgreich, ein schwieriger und deshalb interessanter Charakter mit viel Sinn für Repräsentation. Auf diesen Eigenschaften beruhte seine "Prominenz", die sich in der Sage widerspiegelt. Im Spätmittelalter regionalisierte sich die Historiographie über Heinrich den Löwen, entsprechend der nun deutlich ausgeprägten Territorialisierung des Reiches. Dem nach Stoff und Wertung differenziert-dynamischen Bild der Historiographen steht ein statisches in der Sage gegenüber; diese Statik wird durch das Zurücktreten der individualisierenden historischen Elemente bewirkt. Die Masse der Bildzeugnisse bezieht sich auf die Sage.
Diese nur begrenzt innovative Sicht hat sich aus der Arbeitsweise der Verfasserin ergeben, die eine Folge überbordender, assoziativ kommentierter Quellenparaphrasen und -zitate vorlegt, die im Ganzen letztlich doch eher zur Nacherzählung der Geschichte als zur Analyse der vielen doch so sehr verschiedenen Anläufe zur Auseinandersetzung mit Leben und Wirken Heinrichs des Löwen geführt hat. Eine rezeptionsgeschichtliche Arbeit ist aber in vieler Hinsicht komplizierter und anspruchsvoller als übliche historische Untersuchungen, denn sie setzt deren Ergebnisse voraus als Basis gründlicher Kenntnis der jeweiligen Situationen und Rahmenbedingungen, um die Bewertungsaspekte der analysierten Autoren überhaupt erkennen und beurteilen zu können. Hier hat das Buch deutliche, nur in kleiner Auswahl exemplarisch anzuführende Defizite: Das Jahr 1166 für die Errichtung des Löwenbildes (aus Bronze, nicht aus Eisen, siehe 70 Anm. 244) in Braunschweig ist seit 1993 aus der Diskussion; genauer als 1164-1176 lässt sich das Werk nicht datieren (17). Otto von Freising war nie Abt von Heiligenkreuz; etwas naiv ist die Annahme, dass er "aus rein privat-religiösen Gründen" am zweiten Kreuzzug teilgenommen habe (78f.). Der Annalista Saxo ist wohl kaum mit Abt Arnold von Berge identisch (anders 115 Anm. 454, obwohl dort Klaus Naß als Beleg genannt wird). Warum die komprimierte Notiz zum Sturz Heinrichs des Löwen in der Magdeburger Schöppenchronik "konfus" sein soll (150) ist erklärungsbedürftig. Nach dem Bericht Ottos von St. Blasien und der Marbacher Annalen hat Heinrich der Löwe 1176 sein Verlangen nach Goslar nicht mit dem Lehnrecht "begründet" (so aber 129f.), sondern wollte sich Goslar iure beneficii übertragen lassen. Schon weil solche Kompensationsansprüche häufig gestellt wurden, kann von einer unrechtmäßigen Forderung nicht ohne weiteres die Rede sein; wichtig für die Bewertung der Urteile von Historiographen ist ein präzises Verständnis ihrer Tatbestandsschilderungen. So war Heinrichs des Löwen Anspruch auf das Stader Erbe keineswegs "vollkommen unrechtmäßig" (51); wer das glaubt, kann Helmolds Bericht darüber schwerlich verstehen. Für das Thema zentrale Fragen wie die nach den Gründen variabler Wertungen (z.B. in der Kölner Königschronik) durften nicht offen bleiben (111).
Schon die spätmittelalterlichen Quellen, besonders deutlich die Braunschweigische Reimchronik, beginnen mit der Umwandlung der historischen Faktizität in Literatur - ein Gedanke, der den wesentlichen Drehpunkt der mittelalterlichen Rezeptionsgeschichte treffend markiert, aber leider nicht von der Verfasserin, sondern von Hans-Joachim Behr stammt. Wieso es zu dieser Wandlung kam, wird nicht erklärt, es bleibt auch im Teil über die fiktionalen Texte beim Paraphrasierungsstil, der schon die historiographiegeschichtlichen Kapitel geprägt hat und die gesamte Arbeit belastet, denn der schier unendlichen Reihe des Episodischen entspricht keine konsistente Analyse. Nützlich ist immerhin die Zusammenstellung der einschlägigen Texte (nicht nur Wyssenherre, Hans Sachs, Heinrich Göding, Thedel von Wallmoden, sondern auch Sagenfassungen aus Deutschland, Skandinavien, den Niederlanden, selbst die "Henrico Leone"-Oper); für deren rezeptionsgeschichtliche Auswertung aber werden dem Leser zu geringe Hilfen angeboten. An sich verdienstlich ist auch die Einbeziehung der Bildzeugnisse, aber hier wie zuvor beherrscht die Zusammenstellung und Beschreibung des Materials das Feld so weit, dass weder die Funktion der Bilder noch ihr jeweiliger historischer Kontext im Hinblick auf das eigentliche Ziel der Arbeit aufbereitet werden. Zum Braunschweiger Grabmal Heinrichs des Löwen und seiner Gemahlin Mathilde hat der Kunsthistoriker Robert Suckale schon vor mehr als zehn Jahren Beobachtungen mitgeteilt, die eine Datierung auf die Jahre vor 1210 wahrscheinlich machen [1]; für die hier verfolgte Fragestellung ist das nicht ohne Belang.
Als gelungener Überblick zum vorhandenen Material ist das Buch zu loben (allerdings hätte die englische Historiographie schon wegen der Heiratsverbindung mit dem Haus Plantagenêt und Heinrichs Exilzeit nicht übergangen werden dürfen, und ein Register wäre für die Erschließung nützlich gewesen), durch analytische Mängel und eine Fülle sachlicher Fehler wird sein Wert aber leider gemindert.
Anmerkung:
[1] Robert Suckale: Zur Bedeutung Englands für die welfische Skulptur um 1200, in: Heinrich der Löwe und seine Zeit. Katalog der Ausstellung Braunschweig 1995, Bd. 2, 440-452.
Joachim Ehlers