Ben Grewing: Die Mentalität des "neuen Bürgertums" im 19. Jahrhundert. Studien zur rheinischen Gymnasiallehrerschaft im Kontext bürgerlicher Aufbrüche (= Ortstermine. Historische Funde und Befunde aus der deutschen Provinz; Bd. XIX), Siegburg: Rheinlandia Verlag 2008, 495 S., 1 CD-ROM, ISBN 978-3-938535-41-7, EUR 35,00
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Im Jahrhundert des Bürgertums waren alle Berufe, die die Zugehörigkeit zur neu entstehenden Mittelschicht anstrebten, großen Veränderungen ausgesetzt. Diese betrafen die Meisterung sozialer Problemlagen ebenso wie die gesellschaftliche Reputation. Damit einher ging eine Anpassung der Mentalität an die alten bürgerlichen Eliten. Unter sozial- und mentalitätsgeschichtlichem Aspekt untersucht Ben Grewing in seiner Kölner Dissertation diesen Wandel an Gymnasiallehrern des preußischen Rheinlands. Exemplarisch konzentriert er sich dabei auf drei Gymnasien in Bonn, Duisburg und Neuss. Durch die Auswahl auf kleinere und mittlere Städte kommen auch Erscheinungsformen des Bürgertums in den Blick, die bei den bisherigen Studien zum Bürgertum der Rheinprovinz nur für die größeren Städte Köln und Aachen untersucht wurden. Auch unterschiedliche gymnasiale Schulformen, von der ausgesprochen humanistischen Ausrichtung bis zur Verbindung mit einer Realschule und auf diese Weise die Entwicklung des Schulsystems überhaupt, kann Grewing damit aufgreifen.
Das Gymnasium des 19. Jahrhunderts, so Grewing, nahm erst im Lauf des 19. Jahrhunderts elitäre Züge an. Nur ein bis zwei Prozent eines Jahrgangs kamen bis zum Abitur. Der preußische Staat setzte dafür ungleich mehr finanzielle Mittel ein als für andere Schulformen. Auch erhielt das Abitur ein Monopol als Zugangsvoraussetzung zur Universität und damit zum sozialen Aufstieg. Dieser Bedeutung entsprach zunehmend das Gymnasium mit einer durchschnittlichen Lehrer-Schüler-Relation von 1:16. Die konfessionellen Verhältnisse spiegelten sich auch im Rheinland wider, wo von 23 Gymnasien vierzehn katholisch und acht evangelisch waren.
Aus dem breiten Spektrum der Gymnasiallehrerschaft greift Grewing für seine Untersuchung 275 Personen heraus, die im Zeitraum zwischen 1822 und 1878 an den Gymnasien in Bonn, Duisburg und Neuss unterrichteten. Für die Bestimmung der Mentalität des Lehrkörpers waren jedoch auch die großen Unterschiede vom Direktor bis zum Schulamtskandidat und technischen Lehrer entscheidend. Die Hierarchien innerhalb der Gymnasien, zu deren Spitze nur wenige gelangen konnten, spiegelten die soziale Herkunft der Lehrer, die zu zwei Drittel aus der Mittel- bzw. agrarisch-proletarischen Schicht kamen. In mehreren Durchgängen analysiert Ben Grewing nun die rheinische Gymnasiallehrerschaft des 19. Jahrhunderts. Er blickt auf das Heiratsverhalten; viele Lehrer versuchten dadurch, ihre gesellschaftliche und finanzielle Stellung zu verbessern. Die Kinderzahl war im Durchschnitt geringer als üblich, doch wurde auf ihre Ausbildung großer Wert gelegt. Für ihre eigene Qualifikation spielte die klassische philologische Bildung eine zentrale Rolle, während naturwissenschaftliche Fächer in Ansehen und Aufstiegsmöglichkeiten erst an zweiter Stelle kamen, freilich noch weit vor den an "Hilfslehrer" delegierten technischen Fächern, wie Zeichnen, Singen oder Turnen. Grewing bezeichnet die Laufbahn der meisten Gymnasiallehrer als "Lebensstellung mit nur wenigen Möglichkeiten der Veränderung" (188). Diese berufliche Sicherheit bei meist bescheidenem Einkommen nutzten einige zur wissenschaftlichen Betätigung. Die in Schulprogrammen veröffentlichten Aufsätze bzw. Promotionsarbeiten waren denn auch die Messlatte zur beruflichen Ausdifferenzierung und gesellschaftlichen Reputation.
Zahlreich sind die Klagen über die zu knappe Besoldung. Petitionen um Erhöhung wurden nur ausnahmsweise und gönnerhaft genehmigt. Regelmäßige Gehaltserhöhungen gab es nicht. "Sparsamkeit und penible Haushaltung wurden zu einem bestimmenden Merkmal der Mentalität von Gymnasiallehrern" (285). Auszeichnungen durch die Verleihung von Orden und besondere Belobigungen im Rahmen von Dienstjubiläen, wie sie bei den oft erst kurz vor ihrem Tod pensionierten Lehrern des Öfteren vorkamen, konnten die prekäre finanzielle Situation im Alter nicht verschleiern. Die soziale Lage der Mehrheit der Gymnasiallehrer entsprach nicht ihrem Selbstbild: Beengte Wohnverhältnisse ermöglichten kein bürgerliches Repräsentationsverhalten. In die Schuldenfalle gerieten manche durch eigene länger dauernde Krankheiten oder solche von Familienangehörigen. Grewing meint, der "beständige Zwang zu einer 'vorsichtigen' Lebensführung" (343) habe die Mentalität der Gymnasiallehrer wesentlich mitbestimmt.
Dieses Sicherheitsdenken zeigte sich nach Grewing auch im Statusdenken der verbeamteten Lehrer. Ihre Beziehung zum Staat ließ politische Betätigung nur in Ausnahmefällen zu. Gymnasiallehrer betätigten sich in Lesegesellschaften und wissenschaftlichen Zirkeln, weniger in Vereinen und kommunalen Organisationen. Militärdienst gehörte jedoch zu ihrem Patriotismus selbstverständlich dazu.
Grewing kommt zu dem Ergebnis, dass zwischen dem eigenen Selbstbild und der gesellschaftlichen Realität eine große Kluft bestand, die sich auf das Verhalten der Gymnasiallehrer auswirkte. "Merkmale dieser Mentalität waren das Gefühl der Zurücksetzung, der Kränkung, der unangemessen Besoldung einerseits und die Überzeugung von der gesellschaftlichen Bedeutung der eigenen Tätigkeit andererseits" (409). Zum Bildungsbürgertum war ohnehin nur die Spitze der Gymnasiallehrer zu zählen, die meisten gehörten dem Kleinbürgertum an.
Ben Grewing hat für seine Studie umfangreiches Quellen- und Literaturmaterial herangezogen. Besonders die serielle Auswertung der Schulprogramme hat sich als hilfreich erwiesen. Die beiliegende CD mit der Aufstellung der Zuständigkeiten der Lehrer für die Klassen und Fächer der drei Gymnasien erscheint hingegen eher überflüssig. Bei einem Platz sparenderen Layout wären diese Informationen im Buch leicht unterzubringen gewesen. Insgesamt hat Grewing eine Studie vorgelegt, die den Konflikt zwischen Anspruch und Erwartung bürgerlicher Tugenden auf der einen und der Dominanz der Sorge um den Lebensunterhalt auf der anderen Seite anschaulich macht.
Joachim Schmiedl