Miriam Rürup: Ehrensache. Jüdische Studentenverbindungen an deutschen Universitäten 1886-1937 (= Hamburger Beiträge zur Geschichte der deutschen Juden; Bd. XXXIII), Göttingen: Wallstein 2008, 502 S., ISBN 978-3-8353-0311-9, EUR 40,00
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Ehre gehörte zum Kern gesellschaftlicher Wertvorstellungen, wie sie sich im 19. Jahrhundert durchgesetzt hatten. In den studentischen Verbindungen übte die Elite von morgen diesen Verhaltenkodex ein. Ihn übernahmen mitsamt den Organisationsformen und Ritualen die jüdischen Studenten, als sie seit 1886 eigene Verbindungen gründeten. Doch Übernahme bedeutete nicht Kopie. Das verhinderten von vornherein die Ausgrenzungen, die von der nichtjüdischen Mehrheit im Universitätsmilieu erzwungen wurden, und hinzu kamen eigene, spezifisch jüdische Orientierungen. Den Spannungen und Konflikten, die daraus entstanden, geht die Autorin nach. Sie ergänzt die zahlreichen Studien zur Geschichte studentischer Verbindungen nicht nur um einen bisher wenig erforschten Bereich, sondern erlaubt zugleich einen Blick auf die antisemitischen Einstellungen, die in den deutschen Universitäten und Universitätsstädten vorherrschten. Nach dem I. Weltkrieg verschärften sie sich noch. Nun wurde den jüdischen Verbindungen generell die Satisfaktion verweigert, also die Ehre abgesprochen.
Die Autorin skizziert zunächst die Organisationsgeschichte der jüdischen Studentenverbindungen. Diese Minderheit in der Minderheit - die meisten jüdischen Studenten organisierten sich nicht - teilte sich in zwei Hauptrichtungen, eine deutsch-nationale und eine jüdisch-nationale bzw. zionistische, die sich wechselseitig ablehnten. Unvereinbarkeitsbeschlüsse, Polemiken gegeneinander und eine Vielzahl von Duellen zeugen davon. Diese innerjüdischen Auseinandersetzungen stehen im Zentrum des Buches, denn die Autorin fragt, wie die jüdischen Verbindungen ihren Ort in der deutschen Gesellschaft bestimmten. Es wäre falsch, so argumentiert sie überzeugend, die jüdischen Verbindungen ausschließlich als Reaktion auf den Antisemitismus an den deutschen Universitäten zu verstehen. Beide Richtungen (hinzu kamen religiöse Vereine, die das studentische Brauchtum ablehnten und deshalb nicht untersucht werden) forderten "die gleichberechtigte Teilhabe am studentischen Gemeinschaftsleben" (83). Wie sie ihren Kampf um Respektabilität mit spezifisch jüdischen Zielen verbanden und was sie unter Judentum und jüdischem Leben verstanden, analysiert die Autorin detailliert in fünf Kapiteln. Antworten sucht sie nicht nur in programmatischen Äußerungen der Verbände und in den Reflexionen, die in deren Zeitungen zu finden sind, sondern vor allem im Verbindungsleben. In den Verhaltensformen, die sie dort ermittelt, erkennt sie Indizien für die gesellschaftliche Selbstverortung und die Zukunftserwartungen.
Was heißt es, Jude zu sein in einem Staat, der die Staatsbürgerrechte vom religiösen Bekenntnis verfassungsrechtlich getrennt hatte, während im Alltag weiterhin gesellschaftlich ausgegrenzt wurde? Auf diese Frage gaben beide Richtungen der jüdischen Studentenverbindungen Antworten, die eine "Vielfalt der möglichen (Selbst-)Etikettierungen" (119) zeigen, jedoch in einem übereinstimmten: Gleichberechtigung im studentischen Leben ohne Aufgabe der jüdischen Identität, was immer darunter verstanden wurde. "Juden und zugleich Deutsche im wahren Sinne des Wortes" hieß es in der Denkschrift der Breslauer Verbindung Viadrina von 1886. Wer sich taufen ließ, musste aus der Verbindung ausscheiden. Gleichwohl wurde das Judentum nicht vorrangig religiös definiert. Religion galt vielmehr als einer der kulturellen Faktoren, unter denen der gemeinsamen Geschichte eine besondere Bedeutung zugesprochen wurde.
Dieses deutsch-jüdische Selbstbild lehnten die national-jüdischen Studentenverbindungen ab - sie sprachen abfällig von den "Assimilanten" -, wenngleich auch sie sich als loyale deutsche Staatsbürger verstanden und so handelten. Im Ersten Weltkrieg meldeten sich die Mitglieder zionistischer Verbindungen ebenso wie ihre innerjüdischen Kontrahenten freiwillig an die Front. Dass sie darin die nichtjüdischen Verbindungen prozentual übertrafen, hinderte diese nicht daran, nach dem Krieg ihre antisemitische Ausgrenzungspolitik zu verschärfen.
Bekenntnis zum Judentum als Nation und Mitwirkung in der jüdischen Nationalbewegung galt den zionistischen Verbindungen nicht als Widerspruch. Ihren Zionismus kleideten sie in studentische Verhaltensformen, die sie von den älteren nichtjüdischen Verbindungen übernahmen. Disziplin und Unterordnung sollten Studenten zu "zionistischen Soldaten" (139) erziehen, mit körperlicher Stärkung wollte man dem "wehrhaften Zionismus" (211) dienen, wie generell das auf Ehre bedachte studentische Männerbild übernommen und in den damals üblichen Formen des Verbindungslebens praktiziert wurde (zu den Verbindungen jüdischer Studentinnen scheint es keine Kontakte gegeben zu haben; sie werden nicht untersucht). In der Weimarer Republik rückte in der zionistischen Erziehungsarbeit das Lernziel Palästina in den Vordergrund und erhielt, anders als vor dem Krieg, praktische Züge, weil man nun auf organisierten Reisen das Land kennen lernte. Was man dort sah, deutete man im Wertekodex der studentischen Verbindungen: Palästina als das Land der wehrhaften "Judenehre" (357). Das Verbindungslied die "Zeder am Jordanstrand" sang man zur Melodie der "Wacht am Rhein".
Die Führungsschicht in den jüdischen Organisationen ist zu einem erheblichen Teil in den Studentenverbindungen sozialisiert worden. Nach 1918 waren die Akademiker im Hauptvorstand des "Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens" meist zugleich Alte Herren des "Kartellkonvents der Verbindungen deutscher Studenten jüdischen Glaubens", während der Landesvorstand der "Zionistischen Vereinigung für Deutschland" seine akademischen Mitglieder aus den zionistischen Studentenverbindungen rekrutierte. In ihrer studentischen Zeit hatten sie eine scharfe Grenzziehung gegen die innerjüdischen Konkurrenten erprobt, die sie dann in ihren neuen Ämtern weiterführten.
Für beide Hauptrichtungen gilt, dass "die jüdischen Studenten 'jüdischer' aus dem Krieg heimkehrten, als sie ausgezogen waren" (232f.). Auch die zionistischen Verbindungen hatten gehofft, angesichts der "Blutstaufe" (217) ihrer Mitglieder von der Mehrheitsgesellschaft vollends angenommen zu werden. Diese Hoffnung erfüllte sich nicht, wie die Studenten im Verbindungsalltag immer wieder erlebten. So fiel es ihnen nach dem Krieg noch schwerer als zuvor, in Studentenlokalen ein Zimmer zu erhalten. Die anderen Verbindungen setzten die Wirte unter Druck. Die jüdischen Studenten reagierten auf diese Erfahrung mit einer verstärkten Selbstorganisation und zugleich scheint sich die innerjüdische Trennlinie verschärft zu haben. Nach dem Krieg kam es zu einer Gründungswelle von Verbindungen. Nun entstanden auch vermehrt zionistische Liederbücher, wie sich generell eine national-jüdische Festkultur ausprägte und in einigen Verbindungen wurde ein Hebräischexamen zur Voraussetzung, um zum Alten Herren ernannt zu werden. In ihrem "Streben nach Respekt" (434) und nach Teilhabe an der studentischen "Ehrgemeinschaft" (433) stießen die jüdischen Verbindungen bei ihrem Gegenüber auf taube Ohren. Doch die Formen des Verbindungslebens prägten sie lebenslang und halfen ihnen, ihr Selbstverständnis als Juden zu schärfen. Einheitlich war es zu keiner Zeit.
Miriam Rürup hat mit ihrer Berliner Dissertation, betreut von Wolfgang Benz und Dan Diner, die deutsch-jüdische Geschichte und die Studentengeschichte gleichermaßen um ein wichtiges Kapitel ergänzt.
Dieter Langewiesche