Rezension über:

Tina Ebbing: Körpermitte. Eine Kulturgeschichte des Bauches seit der Frühen Neuzeit, Frankfurt/M.: Campus 2008, 452 S., 19 Abb., ISBN 978-3-593-38733-8, EUR 34,90
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Rezension von:
Marita Metz-Becker
Institut für Europäische Ethnologie/Kulturwissenschaft, Philipps-Universität, Marburg
Redaktionelle Betreuung:
Maren Lorenz
Empfohlene Zitierweise:
Marita Metz-Becker: Rezension von: Tina Ebbing: Körpermitte. Eine Kulturgeschichte des Bauches seit der Frühen Neuzeit, Frankfurt/M.: Campus 2008, in: sehepunkte 9 (2009), Nr. 6 [15.06.2009], URL: https://www.sehepunkte.de
/2009/06/15627.html


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Tina Ebbing: Körpermitte

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Bei dem vorliegenden Buch handelt es sich um eine volkskundliche Doktorarbeit an der Universität Münster, die die Verschränkung des Bauches mit der alltäglichen Lebens- und Erfahrungswelt des Menschen und seine Zuordnung zu einem theoretischen Körperkonzept untersuchen möchte. Konkret sucht die Arbeit nach Bildern vom Bauch, wie sie sich in Elementen der Alltags- und Populärkultur spiegeln. Theoretisch baut die Studie auf dem Zweikulturenmodell Michail Bachtins und dessen Konzept des "grotesken", d. h. offenen und grenzenlosen Körpers der Volkskultur als Gegenkultur auf. Das Quellenmaterial, das die Autorin diskursanalytisch untersucht, besteht im Wesentlichen aus popularen Lesestoffen, medizinischer Ratgeberliteratur, Fitnessanleitungsbüchern, Schönheitsratgebern, Volkskalendern etc. Auch das Internet wird als ergänzende Quellengattung hinzugezogen sowie Wörterbücher und Lexika.

Tina Ebbing gliedert ihre Untersuchung in sieben Kapitel, die den Bauch in unterschiedlichen Zusammenhängen präsentieren: I. Die Kosmologie des Bauches, II. Bauch und Kopf, III. Bauch und Charakter, IV. Formen und (Ver-)Formungen, V. Bauchfreiheit und ihre Grenzen, VI. Bauchtraining, VII. Der geheimnisvolle und der unheimliche Bauch. Dabei kommt die Autorin zu interessanten Ergebnissen. Es existieren, sagt sie, zwei Körperkonzepte: Der freie aber unzivilisierte offene Körper der inoffiziellen Kultur und der unfreie aber zivilisierte geschlossene Körper der offiziellen Kultur. Sie erklärt diese Opposition als Ordnungsmuster innerhalb einer Kultur, das durch Polarisierung symbolische Zuordnungen erlaubt, welche Identifikationsmöglichkeiten anbieten. Auf der Metaebene des Diskurses wird deutlich, dass die Wissenschaft vom menschlichen Körper sich selbst in einem Feld kulturell codierter Vorstellungen befindet, die ihrerseits in die wissenschaftlichen Diskurse einfließen, so wie die Wissenschaft selbst an dieser Codierung teilnimmt. Im Grunde geht es immer um die kulturelle Kommunikation zwischen Kultur und Natur, wenn etwa im Kapitel "Bauchtraining" deutlich wird, dass sich ein spezielles Interesse für den Bauch erst im beginnenden 19. Jahrhundert entwickelte, als der anatomisch gliedernde Blick auf den Körper einsetzte, der erst die Voraussetzung für eine gezielte Behandlung des Bauches darstellte. Nur so ist zum Beispiel das hart erarbeitete und selbst geschaffene Kunstwerk eines "Waschbrettbauches" zu erklären, als endgültige Eroberung des Körpers oder auch als "Ende des natürlichen Körpers" (325).

Interessante Feststellungen dieser Art finden sich viele, etwa auch im Kapitel "Der geheimnisvolle und der unheimliche Bauch", in dem die Autorin nachweist, dass die Motive des Bauches als geheimnisvolle Körperregion von den Flugschriften der Frühen Neuzeit bis zur Sammlung medizinischer Detektivgeschichten unserer Tage eine Kontinuität aufweisen, wenn sich sagenhaften Geschichten zufolge Fremdkörper und Tiere in ihm befinden. Trotz der Entzauberung durch die modernen medizinischen Theorien und Technologien bleibt der Bauch Sitz des Dämonischen und ein Mikrokosmos mit Eigenleben.

So aufschlussreich der diskursanalytische Zugang zum Thema Bauch auch ist, bleibt doch festzuhalten, dass bei einer alltagsweltlichen Studie auch andere Schwerpunktsetzungen denkbar wären. Dies benennt die Autorin selbst, wenn sie anführt, dass die vorgestellten Körperbilder und -konzepte durch weiteres Quellenmaterial vertieft werden könnten und müssten (421f.). Eine Kulturgeschichte des Bauches von der Frühen Neuzeit bis heute zeichnen zu wollen, ist ein anspruchsvolles Unterfangen angesichts der immensen kulturellen Veränderungen in den letzten sechs Jahrhunderten. Dennoch ist der Autorin ein interessantes Werk gelungen, das zeigt, dass der Nabel der Welt viele Facetten hat und unsere Körpermitte weit mehr ist als ein bloßes Körperteil. Sie ist viel mehr als Austausch von Körper und Welt zu verstehen, wobei der Blick in die Geschichte frappierende Erkenntnisse über die Erscheinungen in der Gegenwart liefert.

Marita Metz-Becker