Rezension über:

Nathan Stoltzfus / Henry Friedlander (eds.): Nazi Crimes and the Law (= Publications of the German Historical Institute Washington D.C.), Cambridge: Cambridge University Press 2008, ix + 225 S., ISBN 978-0-521-89974-1, GBP 45,00
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Rezension von:
Edith Raim
Institut für Zeitgeschichte München - Berlin
Empfohlene Zitierweise:
Edith Raim: Rezension von: Nathan Stoltzfus / Henry Friedlander (eds.): Nazi Crimes and the Law, Cambridge: Cambridge University Press 2008, in: sehepunkte 9 (2009), Nr. 6 [15.06.2009], URL: https://www.sehepunkte.de
/2009/06/15904.html


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Nathan Stoltzfus / Henry Friedlander (eds.): Nazi Crimes and the Law

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Zur gegenwärtigen Flut von Veröffentlichungen zur Ahndung von NS-Verbrechen gesellt sich nun auch der vorliegende Band. Ähnlich wie das von Patricia Heberer und Jürgen Matthäus herausgegebene (und in den sehepunkten bereits besprochene) Buch "Atrocities on Trial" [1] versammelt er Beiträge international renommierter Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus den USA, den Niederlanden, Deutschland und Österreich.

Henry Friedlander widmet sich der Perversion des Rechtssystems im NS-Staat und skizziert die rechtlichen Bedingungen der Ahndung dieser Verbrechen nach 1945, die drei Beiträge von Gerhard L. Weinberg, Patricia Heberer und Michael S. Bryant diskutieren die alliierten bzw. amerikanischen Prozesse zu NS-Verbrechen, wobei Weinberg einige Forschungsdesiderate zu den Nürnberger Prozessen aufzeigt. Joachim Perels, Dick de Mildt und Nathan Stoltzfus befassen sich mit verschiedenen Aspekten der westdeutschen NS-Verfahren, Winfried R. Garscha gibt einen Überblick über die NS-Verbrechensverfolgung in Österreich, Annette Weinke lenkt den Blick auf die deutsch-deutsche "Systemkonkurrenz" bei der Ahndung, Elizabeth B. White fasst die amerikanischen Office of Special Investigation (OSI)-Verfahren zusammen und Christopher R. Browning analysiert die Problematik der Holocaustleugnung anhand der Verfahren gegen Ernst Zündel und David Irving und gibt einen Einblick in seine Tätigkeit als Gutachter.

Die lange Zeitspanne, die zwischen der vom Deutschen Historischen Institut in Washington D.C. geförderten Konferenz, die 2003 in Amsterdam stattfand, und der schriftlichen Vorlage des Werkes vergangen ist, ist sichtlich nicht für eine sorgfältige Redaktion der Texte verwendet worden. Vergessene Umlaute und Rechtschreibfehler bei deutschen Zitaten trüben die Lektüre. Hindenburg wird zu Hindenberg (Stoltzfus/Friedlander, 4); die alliierten Kriegsverbrecherhaftanstalten Landsberg am Lech, Wittlich und Werl mutieren zu "Landsberg, Werl and Lech" (Weinke, 158) und Gutachten erfahren als "Gutakten" einen Bedeutungszuwachs (White, 180). Hinzu kommen faktische Widersprüche zwischen den einzelnen Beiträgen (Weinberg meint, deutsche Gerichte seien erst Jahre nach Kriegsende mit der Ahndung von Kriegsverbrechen betraut worden, 36; Friedlander äußert dagegen zu Recht, die Verfahren vor deutschen Gerichten hätten im Spätjahr 1945 begonnen, 25).

Auf Fehler und Missinterpretationen, die bereits in der Besprechung "Atrocities on Trial" von der Rezensentin moniert wurden und in dem vorliegenden Band perpetuiert werden, wird hier nicht mehr näher eingegangen. Erneut wird hier fälschlich behauptet, alle deutschen Gerichte hätten in der Besatzungszeit die Ermächtigung zur Anwendung des Kontrollratsgesetzes (KRG) Nr. 10 gehabt (Friedlander, 27; Heberer, 60), was für die amerikanische Zone aber eben nicht zutrifft. Dabei hätte ein einziger Blick auf die Anklage bzw. das Urteil des von Heberer analysierten Frankfurter Hadamar-Prozesses sie eines Besseren belehrt: Dort war weder nach KRG 10 angeklagt noch verurteilt worden. Bryant (64) verwechselt den Western Military District mit dem Eastern Military District und weiß offensichtlich nicht, dass Württemberg-Baden und Baden-Württemberg zwei unterschiedliche Entitäten darstellen, die zu unterschiedlichen Zeiten existierten bzw. existieren. Dass ausgerechnet in den USA das Wissen über die amerikanische Zone so gering ist, ist enttäuschend.

Bryants Aufsatz über die amerikanischen KZ-Prozesse in Dachau macht deutlich, dass man nur dann solide über die NS-Prozesse der Nachkriegszeit schreiben kann, wenn auch das Wissen über diese Verbrechen fundiert ist. Er bezieht sich bei einer Zusammenfassung der Geschichte der Konzentrationslager Dachau, Buchenwald und Mauthausen auf die doch in weiten Teilen überholte "Enzyklopädie des Holocaust", hinzu kommen falsche Einordnungen (Mühldorf war kein Hauptlager, 65) oder Unterordnungen der Außenlager (Allach gehörte nicht zum Kaufering-Komplex, 71). Wenn schon die Basis auf so wackeligen Füßen steht, kann das Ergebnis beim "Überbau" nicht überzeugen. Zwar sind die rechtlichen Überlegungen - Einstufung als "Exzesstaten" durch die Anklage versus "Befehlstaten" der Verteidigung - wichtig. Die Amerikaner wurden in diesen Prozessen aber von der Realität eingeholt, als sie sich einem Sammelsurium von Angeklagten gegenübergestellt sahen, die meist über subalterne Dienstgrade nicht hinausgekommen waren, weil die Haupttäter - wie etwa KZ-Kommandanten - nicht dingfest gemacht werden konnten oder sich ihren irdischen Richtern entzogen hatten. Lohnenswert wäre sicherlich eine vergleichende Studie der drei großen Prozesse und ihrer Nachfolgeverfahren.

Weitverbreitet in den Aufsätzen ist das "Juristen-Bashing", das verbale Einprügeln auf den Juristenstand, was zu bizarren Einschätzungen führt, wie etwa der Behauptung, einer der Gründe für die massenmörderische Dimension der Judenvernichtung sei das deutsche Justizwesen ("The German judicial system was one reason the Holocaust resembled machine-like mass murder rather than a Czarist pogrom.", Stoltzfus/Friedlander, 8) oder der Vorstellung, die westdeutsche Justiz habe primär der Reinwaschung der Wehrmacht gedient ("[...] the FRG judicial system was acting primarily as an agency to clear the Wehrmacht's record.", Stoltzfus, 118). Ähnlich pauschal wirft Perels der Mehrzahl der westdeutschen Juristen vor, sie hätten in den Verfahren das Leiden der Opfer ignoriert (88) oder die Tötungen quasi juristisch legitimiert. Derart simplistische Vorstellungen degradieren die Justiz wirklich zur Magd der Politik. De Mildt kritisiert die Nichtverfolgung des vor einem SS- und Polizeigericht Verurteilten Max Täubner, der wegen des Rechtsprinzips "ne bis in idem" auch in der Bundesrepublik nicht mehr angeklagt werden konnte. Ähnliches trifft aber auch auf Verurteilte aus alliierten Verfahren zu. Aber hätte man ein bewährtes Rechtsprinzip opfern sollen, um in einigen Einzelfällen Prozesse eröffnen zu können?

Sowohl Stoltzfus als auch Weinke hängen der teils doch recht kruden Vorstellung an, politische Einflüsse hätten den Verlauf der (west-)deutschen Ahndung von NS-Verbrechen dominiert. Beide Beiträge vermitteln ein wenig den Eindruck, als würde die Justiz quasi tatenlos auf neue Trends oder "Konjunkturen" der Politik warten, bis sie dann dieser diensteifrig zu Willen ist. Weinke meint, viele Aspekte der Ahndung der NS-Verbrechen der 50er und 60er Jahre seien außerhalb des Kontexts des Kalten Krieges unverständlich, wobei die Bundesrepublik Deutschland stets auf Anwürfe aus der DDR habe reagieren müssen. Tatsache ist aber, dass die Mehrzahl aller Prozesse in Ost- und Westdeutschland vor 1950 stattfand, in einer Zeit, als die "Systemkonkurrenz" nicht existierte bzw. keineswegs so ausgeprägt war wie in späteren Jahren. Stoltzfus argumentiert ähnlich, das Anwachsen der Prozesszahlen ab dem Ende der 50er Jahre und die Gründung der Zentralen Stelle seien auf die Kampagnen aus der DDR zurückzuführen. Das Verfahren, das schließlich zur Gründung der Zentralen Stelle Ludwigsburg führte und als Ulmer Einsatzgruppenprozess in die Geschichte einging, fing aber - ohne erkennbare politische Einflussnahme aus dem anderen deutschen Staat - als bescheidenes Ermittlungsverfahren "Ulm 7 Js 6445/55" im Jahr 1955 an. Stoltzfus moniert, dass die Ermittlungen zu dem Massaker an italienischen Soldaten vom September 1943 in Kephallonia sowohl 1968 also auch 2006 eingestellt wurden. Überraschen muss einen das aber nicht wirklich: Die rechtliche Grundlage, das deutsche Strafgesetzbuch, war eben diesbezüglich dasselbe geblieben, die Einstufung der Tat als Totschlag ebenso.

Perels führt das Versagen der Justiz bei der Verfolgung von NS-Verbrechen darauf zurück, dass die juristischen Eliten ihre Karrieren in der Bundesrepublik nahtlos fortsetzen konnten. Klare Nachweise, dass Angehörige der NS-Justiz auch wieder in Strafverfahren zur Ahndung von NS-Verbrechen verwendet wurden, bleibt der Autor jedoch schuldig. Waren aber Recht und Demokratie der Bundesrepublik wirklich gefährdet, wenn ein ehemaliger NSDAP-Angehöriger als Verkehrsrichter tätig war oder ein ehemaliger Sonderrichter nun Ehen schied?

Leichtfertig ist auch die Behauptung von Stoltzfus (9, 114), die ostdeutschen NS-Prozesse seien zahlreicher als in Westdeutschland gewesen. Dies geschieht augenscheinlich in Unkenntnis der Tatsache, dass die gern verbreitete inflationäre Zahl von NS-Prozessen in der SBZ/DDR kontaminiert ist durch die Vermengung von politischen Säuberungsverfahren und strafrechtlichen Prozessen, die in Ostdeutschland vor denselben Gerichten stattfanden (und damit stärker dem österreichischen Vorgehen ähneln als dem westdeutschen). Ein vernünftiger Vergleich West- und Ostdeutschlands müsste daher entweder die westdeutschen Entnazifizierungsverfahren vor Spruchkammern und Spruchgerichten zu den strafrechtlichen Ermittlungen und Prozessen vor ordentlichen Gerichten hinzuzählen oder die ostdeutschen Säuberungsverfahren herausrechnen.

Unklar bleibt bei dieser Betonung der politischen Einflussnahme auf die NS-Verfahren dann aber die Tatsache, dass auch im neutralen Österreich - dem Kalten Krieg ja nun deutlich weniger ausgesetzt - die Ahndungstätigkeit nach der Beendigung der Volksgerichtsbarkeit 1955 praktisch versiegte und dass ebenso in anderen Ländern ganz unterschiedlicher Blockzugehörigkeit wie etwa Polen oder den Niederlanden ab Anfang/Mitte der 50er Jahre der Impetus zur Verfolgung erlahmte.

Sollte es noch Argumente brauchen, warum die politischen Einflüsse überschätzt werden, so sei auf das in dem Band dargelegte amerikanische Beispiel der Verfahren zur Ausbürgerung von NS-Verbrechern verwiesen: Eine neutrale Öffentlichkeit, wohlmeinende Richter (die über jeden Verdacht der Zugehörigkeit zur NS-Justiz erhaben waren!), ausgezeichnete Wissenschaftler, die Recherchen rund um den Globus unternehmen konnten und auf das angehäufte Wissen mehrerer Forschergenerationen zurückgreifen konnten, juristische Erfahrungen aus amerikanischen und deutschen NS-Prozessen, verbesserte und verfeinerte Ermittlungsmethoden - und trotzdem erzielte das seit 1979 tätige OSI in den fast 30 Jahren seiner Arbeit das wenig ehrfurchtheischende Ergebnis von lediglich 105 Anklagen, die in 85 Ausbürgerungen und 63 Ausweisungen endeten (White, 179). Fazit: Selbst unter besten Bedingungen (nachweislich ohne politische Einflussnahme) ist die strafrechtliche Ahndung nicht immer ein Erfolg.

Der Band hinterlässt - mit Ausnahme der solide recherchierten und interessanten Beiträge von Weinberg, Garscha und Browning - den etwas zwiespältigen Eindruck, als hätten die Autoren das immer Gleiche (aber deswegen nicht notwendig Richtige) schon zu oft gesagt, und ringt der Rezensentin den Stoßseufzer ab, dass in Zukunft zu dem Thema hoffentlich mit derselben Verve geforscht wie bisher lediglich veröffentlicht wird.


Anmerkung:

[1] Edith Raim: Rezension von: Patricia Heberer / Jürgen Matthäus (eds.): Atrocities on Trial. Historical Perspectives on the Politics of Prosecuting War Crimes, Lincoln: University of Nebraska Press 2008, in: sehepunkte 8 (2008), Nr. 9 [15.09.2008], URL: http://www.sehepunkte.de/2008/09/14859.html

Edith Raim