Shari L. Lowin: The Making of a Forefather. Abraham in Islamic and Jewish Exegetical Narratives (= Islamic History and Civilization. Studies and Texts; Vol. 65), Leiden / Boston: Brill 2006, xvi + 308 S., ISBN 978-90-04-15226-7, EUR 104,00
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Das Verständnis der Intertextualität mittelalterlicher jüdischer und islamischer Texte ist seit Abraham Geigers Was hat Mohammed aus dem Judenthume aufgenommen (1833) weit vorangeschritten: wenige Wissenschaftler gehen noch von einem einseitigen, linearen Einfluss des jüdischen Schrifttums auf den Islam aus; die Mehrzahl akzeptiert mittlerweile die Intertextualität und gegenseitige Abhängigkeit des jüdischen und islamischen Gedankengutes. Auch Shari Lowins Arbeit, diese gegenseitige Befruchtung und Interdependenz anhand jüdischer und islamischer Texte zur Abrahamslegende zu untersuchen, ist in diesem Bereich anzusiedeln.
Kritisch gegenüber den älteren Erkenntnissen der vergleichenden Textforschung, die vor allem der Frage einer einseitigen Abhängigkeit von Texten und Ideen nachgeht, um die Vorrangigkeit einer Tradition hervorzuheben, hat Lowin zwei Ziele im Auge: einerseits will sie zeigen, dass in der Forschung trotz aller Bemühungen der letzten Jahrzehnte immer noch allzu häufig die Dependenz des islamischen Schrifttums von jüdischen Vorlagen das Wort geredet und so die "gegenseitige Interdependenz" (2) des jüdischen und islamischen Textkorpus übersehen wird; andererseits will sie aufzeigen, dass sowohl im Islam wie auch im Judentum bewusst und zielgerichtet Texte der anderen Tradition verändert und manipuliert worden sind, um die eigenen religiösen Werte zu betonen.
Das Buch im Einzelnen: Auf eine Einführung, in der Lowin dem Leser einen allgemeinen Überblick gibt, folgt ein kurzer Exkurs zum gegenwärtigen Stand der Forschung über die Frage der muslimisch-jüdischen Intertextualität. Der Hauptteil des Buches besteht dann aus fünf Kapiteln, in denen die Verfasserin verschiedenen Themen und Variationen der Abrahamslegende in jüdischen und muslimischen Texten nachgeht. Im ersten Kapitel zeigt Lowin auf überzeugende Weise, wie die Frage der Prophezeiung von Abrahams Geburt und die Erzählungen über vorgeburtliche Zeichen künftiger Größe und Bedeutung in den muslimischen exegetischen Abhandlungen aufgegriffen wird, um für alle erkennbar Abrahams Prädestination und Zentralität für den islamischen Kontext herauszustellen. Im jüdischen Erzählgut tauchen diese Motive erst in islamischer Zeit auf, wobei die Vorhersage der Ankunft des Propheten und die Berichte über seine bereits pränatal erkennbare Bestimmung verworfen werden. Da die Geburt und der Werdegang von Abraham in jüdischen Texten nicht göttlich vorherbestimmt sind, braucht sich dieser Abraham auch nicht vor weltlichen Gewalten zu verstecken; im islamischen Textkorpus ist Abrahams Lebenslauf und sein Kampf gegen die Vielgötterei hingegen göttlich determiniert. Dies ist auch seinen Gegnern bekannt, so dass Abraham während seiner Kindheit im Verborgenen bleiben muss, versteckt vor weltlichen Autoritäten.
Das zweite Kapitel beschäftigt sich mit der Frage der Gotteserkenntnis Abrahams. Während jüdische Texte vor allem Abrahams Selbsterkenntnis bezüglich des einen, wahren Gottes hervorheben und ihn als theologischen Autodidakten darstellen, ruht der Schwerpunkt der islamischen Exegese auf Abrahams Erkenntnis der Rechtleitung Gottes. Im folgenden Teil der Arbeit greift Lowin das Motiv der wundersamen Ernährung Abrahams auf. Das im Verborgenen lebende Kind wird in islamischer Tradition in mirakulöser Weise durch seine eigenen Finger versorgt, während die jüdische Tradition eine solche göttliche Intervention zugunsten Abrahams ablehnt. Gleichzeitig betont Lowin, dass dieses Wunder, durch das Lutschen der Finger zu überleben, auf jüdische Exegesen (midrashim) zur wundersamen Errettung von Moses und den Kindern Israels in pharaonischen Zeiten zurückgeht. Jüdische Midrashim als auch islamische Traditionen erzählen von Abrahams Ablehnung der Vielgötterei und seiner daraus resultierenden Verurteilung zum Tode auf dem Scheiterhaufen. Kapitel 4 setzt sich mit diesem Scheiterhaufen und den damit verbundenen muslimischen Berichten über feuerlöschende Frösche auseinander, die ihre Wurzeln in der mosaischen Erzähltradition im Zusammenhang mit den zehn Plagen Gottes haben. Beide Traditionen wissen um Gottes Beistand und die wundersame Rettung Abrahams: während die vorislamischen jüdischen Exegesen nur von wenigen Details der Rettung Abrahams berichten, ist die nachislamische Midrash, die die entstehende islamische Tradition aufgreift und einbindet, sehr viel facettenreicher. Lowin zeigt am Beispiel der feuerlöschenden Frösche auf, dass die muslimischen Gelehrten die früh-jüdische Midrash rezipierten und geschickt für ihre eigenen Zwecke nutzten, indem sie sie in die Konzepte der islamischen Theologie einbanden. Die spätere Midrash griff nun ihrerseits diese jetzt bereits überarbeiteten und modifizierten Vorstellungen auf und setzte sich mit ihnen weiter auseinander. Das fünfte und letzte Kapitel zeigt schließlich, dass das islamische Muhammadbild dem jüdischen Mosesbild nahekommt. Die Ähnlichkeiten zwischen diesen beiden Zentralfiguren wird in der islamischen Traditionsliteratur über das islamische Abrahambild vermittelt, welches wiederum dem jüdischen Mosesbild angeglichen ist. Der mosaisch-muslimische Abraham fungiert somit als Prototyp für Muhammad. Durch diese Übernahme wurde möglich, dass man in der islamischen Traditionsliteratur Muhammad als idealtypischen Propheten darstellen konnte. Wie Moses ist Muhammad Gesetzesbringer, genau wie Moses erinnert er seine Adressaten an eine frühere Verkündigung. Es ist aber durchaus angebracht, in diesem Zusammenhang darauf hinzuweisen, dass der Ursprung der islamischen Option für Abraham als Vorbild für Muhammad im Umfeld des frühislamischen Sektierertums verortet werden kann. Schon der Koran setzt Abraham über Moses mit der Feststellung, Abraham sei weder Jude noch Christ, da Moses und Jesus erst nach Abraham geboren worden seien. Diese theologische Privilegierung des früher Geborenen kann als (Teil-)Erklärung für die Tatsache dienen, dass der islamische Abraham in mosaischer Weise gezeichnet wird.
Lowins Arbeit ist solide und gründet sich auf eine reiche Auswahl von Midrashim und islamischer exegetischer Literatur. Lowins These, dass Muslime und Juden vorsätzlich und mit theologischen Intentionen Texte über Abraham kreiert und modelliert haben, ist mit vielen Beispielen belegt. Lowin argumentiert bezüglich der Frage der Intertextualität muslimischer und jüdischer Textkorpora überzeugend und schlüssig. Insgesamt leistet Lowins Werk einen wertvollen Beitrag zum Verständnis der gegenseitigen Beeinflussungen nicht nur auf textueller Ebene, sondern es verhilft dem Leser auch zu vielen Einsichten in das Verhältnis zwischen jüdischen und muslimischen Gemeinwesen in der frühislamischen Zeit. Wenige Rechtschreibefehler lenken von der Arbeit ab (27,32, 53). Eine gewisse Unschlüssigkeit besteht, wenn es um Ibn Ishaqs Todesjahr geht (228, 265). Ein Anhang mit Originaltexten ist hilfreich, und ein sorgfältiger Index erleichtert dem Leser die Lektüre. Alles in allem ist Lowins Studie ein gelungenes Werk, das sowohl dem Spezialisten wie auch dem Laien empfohlen sei.
Alfons Teipen