Bettina Zurstrassen: "Ein Stück deutscher Erde schaffen". Koloniale Beamte in Togo 1884-1914 (= Campus Forschung; Bd. 931), Frankfurt/M.: Campus 2008, 294 S., ISBN 978-3-593-38638-6, EUR 32,90
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Mit Inkrafttreten des Versailler Vertrages am 10. Januar 1919 verlor Deutschland auch formal seine Ansprüche auf die mehrheitlich schon zu Beginn des Ersten Weltkrieges verloren gegangenen Kolonien. In Artikel 119 des Friedensvertrages erklärte es seinen Verzicht auf die Kolonien. Die Siegermächte begründeten diesen erzwungenen Verzicht damit, dass das Reich als Kolonialmacht zivilisatorisch, kulturell und politisch versagt habe. [1]
In der Geschichte des deutschen Kolonialismus findet sich in der Tat eine Fülle von Belegen, die das vielschichtige Versagen dokumentieren. Der Genozid an den Herero und Nama in Deutsch-Südwestafrika ist das hierfür wohl traurigste Beispiel. Die martialische Herrschaftspraxis in den Kolonien ist nicht zuletzt auch eine Folge der Konzeptlosigkeit des deutschen Kolonialismus und eines allgemeinen Informationsdefizits hinsichtlich der kulturellen, sozialen und politischen Verhältnisse in den beanspruchten Gebieten. Die politische Konzeptlosigkeit spiegelte sich in der Verwaltungspraxis wider und wirkte sich nicht nur auf das Verhältnis zwischen Kolonisatoren und Kolonisierten aus, sondern auch auf das Verhältnis zwischen den Beamten vor Ort und der zentralen Kolonialverwaltung in Berlin. Diese Feststellung gilt, wie die Sozialwissenschaftlerin und Historikerin Bettina Zurstrassen jetzt eindrucksvoll dargestellt hat, nicht nur für die Kolonien in Südwest- und Ostafrika, sondern auch für die als solche stilisierte 'Musterkolonie' Togo.
Historiker haben sich wiederholt mit der facettenreichen Geschichte - auch der Verwaltungsgeschichte - des Kolonialismus in Togo befasst und auf die Kontroll- und Steuerungsdefizite hingewiesen, die das Verhältnis zwischen den lokalen Beamten und der Dienstaufsicht führenden Behörde in der Wilhelmstraße prägten. [2] Dieses Problemfeld greift Zurstrassen in ihrer Dissertation auf. Ihr Forschungsinteresse gilt der Frage der sozialen und dienstrechtlichen Kontrolle und Steuerung der kolonialen Beamten durch die koloniale Gesellschaft in Togo und die Verwaltungszentrale in der Wilhelmstraße sowie durch die öffentliche Meinung im kaiserlichen Deutschland.
Zurstrassen betreibt keine klassische Verwaltungsgeschichte. Sie verbindet in ihrer Studie, die durchgängig den aktuellen Forschungsstand reflektiert, diplomatie- und verwaltungshistorische Ansätze mit einem sozial- und mentalitätsgeschichtlichen Zugang und erschließt der Forschung somit eine neue Perspektive. Sie wertet umfangreiches bislang vornehmlich unbekanntes und unveröffentlichtes Quellenmaterial aus. Von besonderer Relevanz sind die Bestände im Bundesarchiv/Berlin-Lichterfelde (Reichskolonialamt, Schutzgebietsverwaltung Togo, Pressearchiv des Reichslandbundes) und des Lomé Archives Nationales Du Togo (Fonds Allemand, Lomé). Des Weiteren hat Zurstrassen zahlreiche Nachlässe damaliger Kolonialbeamter (u.a. Valentin von Massow, Rudolf Asmis, Alfred Zimmermann, Julius Graf von Zech) eingesehen.
Sie analysiert in ihrer Studie die Entwicklung des Selbstbildes und den hieraus resultierenden Herrschaftsanspruch (13) der Beamten in Togo zwischen 1884 und 1914 sowie die daher rührenden Konflikte zwischen den 'men on the spot' und der Kolonialverwaltung in Berlin um die Gestaltungsmacht über die Herrschaftsausübung. Im Mittelpunkt der Arbeit steht die Untersuchung der Maßnahmen und Strategien, die die Kontroll- und Steuerungsinstanzen entwickelten, um die Kolonialbeamten zur Einhaltung einer ordnungsgemäßen Verwaltung anzuhalten (15). Zurstrassen nimmt sich hiermit eines Problems an, das von der Forschung häufig benannt, bisher aber nicht systematisch untersucht wurde. Die Verfasserin schließt damit ein Desiderat in der Kolonialismusforschung und leistet einen wichtigen Beitrag zu einem umfassenderen Verständnis der Geschichte der deutschen Herrschaft in Togo.
Zurstrassen zeichnet in den sieben Kapiteln ihrer Arbeit das Bild eines auf verschiedenen Ebenen permanent schwelenden Dauerkonflikts zwischen den Beamten in Togo und der Zentrale. Dass es überhaupt zu Kompetenzstreitigkeiten solchen Ausmaßes kommen konnte, führt sie auf das Fehlen eines originären Verwaltungsplans für die deutschen Kolonien zurück. Beim Auf- und Ausbau der Verwaltung habe die Regierung es versäumt, kolonialpolitische Konzepte zu entwickeln (188). Dies ermöglichte den Kolonialbeamten in Togo erhebliche Handlungsfreiräume, das Land nach eigenen Vorstellungen zu erschließen. Aus pragmatischen Erwägungen ließ die Reichsregierung die Beamten gewähren. Außerdem hätten auftretende Missstände, etwa die schlechte Behandlung der Afrikaner durch die Beamten, noch keine "politische Dimension" angenommen, weshalb Berlin keinen Handlungsbedarf sah, regulierend in die Verwaltungspraxis einzugreifen. (13)
Zurstrassen stellt heraus, dass sich mit der Konsolidierung der Verwaltung und der Herrschaftsstabilisierung das Selbstverständnis der Beamten in Togo änderte. Bei den Beamten entwickelte sich ein Herrschaftsbewusstsein, das zur partiellen Verselbstständigung der Kolonialbeamten von der Reichsverwaltung führte. Allerdings seien den kolonialen Beamten keine Separationsbestrebungen nachzuweisen. (257)
Diese Gruppe beanspruchte für sich Rechtssetzungs- und Gesetzgebungskompetenzen in den Kolonien und trat damit in Konkurrenz zur zentralen Kolonialverwaltung. Zurstrassen weist in diesem Zusammenhang zahlreichen Fälle von Gehorsamsverweigerung hinsichtlich der Ausführung von Anordnungen und Vorschriften der Dienstaufsicht führenden Behörde in der Wilhelmstraße nach (181) und verdeutlicht dies anschaulich am Beispiel der Strafgerichtsbarkeit über die Afrikaner (169ff.).
Vor diesem Hintergrund änderte sich die Wahrnehmung der Verwaltungspraxis in Berlin um die Jahrhundertwende grundlegend, zumal sich Kolonialskandale in Togo häuften und in einer breiteren Öffentlichkeit diskutiert wurden. Jetzt stand das Ansehen Deutschlands als Kolonialmacht auf dem Spiel. (257) Erst um 1900 intensivierte die Reichsverwaltung ihre Bemühungen um Kontrolle und Steuerung der Beamten in Togo. Die willkürliche Verwaltungspraxis sollte eingeschränkt und das bürokratische Verwaltungshandeln gestärkt werden (97).
Den Mittelpunkt der Studie bildet eine kenntnisreiche Analyse der Kontroll- und Steuerungsmaßnahmen der Zentrale. Diese habe es nicht verstanden, wirkungsvolle Instrumente zu entwickeln, um die Beamten zu disziplinieren (96f.). Weder die Karriereambitionen der Beamten noch in Aussicht gestellte Privilegien oder Sanktionsandrohungen der Regierung waren für die Beamten Anlass genug, ihre Konfrontationshaltung aufzugeben. Einzig im Bereich der Pressekontrolle ("Das System Hammann") habe die Kolonialverwaltung ihr Ziel erreicht und die Beamten verpflichten können, Veröffentlichungserlaubnisse einzuholen, bevor diese ihre vormals regierungskritischen Artikel in der Presse publizierten. Auch der Reichstag und die öffentliche Meinung sind ihrer Kontroll- und Steuerungsfunktion nicht gerecht geworden.
Disziplinierend auf die Kolonialbeamten habe vielmehr der Einfluss der kolonialen Gesellschaft in Togo gewirkt. Die Konstruktion einer bewussten deutschen Identität als Abgrenzungsstrategie zur afrikanischen Kultur habe die befürchtete Assimilation der Kolonialbeamten ("Verkaffnern") verhindern können und somit zur Aufrechterhaltung der kolonialen Ordnung beigetragen. Auf das Verhältnis zwischen Kolonialbeamten und Kolonialverwaltung hatte die koloniale Gesellschaft allerdings keinen Einfluss.
Zurstrassen kommt schließlich zu dem etwas erstaunlichen Ergebnis, dass sich die Kolonialbeamten prinzipiell pflichttreu und loyal gegenüber der Reichsregierung verhalten hätten und somit die Funktionsfähigkeit der Kolonialverwaltung gewährleisteten (238). Leider begründet sie die durchaus diskussionswürdige These nicht ausführlicher. Immerhin legt das Grundmuster ihrer Argumentation andere Rückschlüsse nahe. Dies kann eigentlich nur bedeuten, dass die Konflikte zwischen den Kolonialbeamten in Togo und der Verwaltung in Berlin weniger grundsätzlich waren als es die Präsentation der Untersuchungsergebnisse schlussfolgern lässt.
Insgesamt liegt hiermit eine solide Studie vor, die durch eine tiefe Quellenkenntnis und zumeist konzise Darstellungsweise besticht und vor allem von Fachhistorikern mit Gewinn gelesen werden kann. Allerdings gestaltet sich die Dokumentation der eigenen Argumentation bisweilen etwas langatmig. Daran gemessen fällt die Zusammenfassung der Ergebnisse am Ende der Arbeit ein wenig zu knapp aus. Man hätte sich hier eine ausführlichere Zusammenschau der Forschungsergebnisse gewünscht.
Anmerkungen:
[1] Horst Gründer: Geschichte der deutschen Kolonien, 3. Aufl., Paderborn 1995, 217.
[2] Hier sind besonders die grundlegenden Arbeiten von Peter Sebald zu nennen. Vgl. u. a. Peter Sebald: Togo 1884 bis 1914. Eine Geschichte der deutschen "Musterkolonie" auf der Grundlage amtlicher Quellen, Berlin 1987.
Salvador Oberhaus