Rezension über:

James Vernon: Hunger. A Modern History, Cambridge, MA / London: The Belknap Press of Harvard University Press 2007, xii + 369 S., ISBN 978-0-674-02678-0, USD 29,95
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Rezension von:
Christian Gerlach
Historisches Institut, Universität Bern
Redaktionelle Betreuung:
Andreas Fahrmeir
Empfohlene Zitierweise:
Christian Gerlach: Rezension von: James Vernon: Hunger. A Modern History, Cambridge, MA / London: The Belknap Press of Harvard University Press 2007, in: sehepunkte 9 (2009), Nr. 7/8 [15.07.2009], URL: https://www.sehepunkte.de
/2009/07/14866.html


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James Vernon: Hunger

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Der Titel dieses Buches ist Etikettenschwindel, auch wenn sein Autor dies anders sieht. Genauer gesagt, legt James Vernon hier eine Studie über Wahrnehmungen von und Diskurse über Hunger in Großbritanien von der Mitte des 19. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts vor. Seine Kernthese ist, dass Hunger zunächst als gottbestimmtes Naturereignis verstanden worden sei, dann moralisierend als abscheuerregendes Scheitern von Individuen und schließlich als von Menschen gemachtes Problem und sozialer Skandal. Dieser Wandel "is the modern history of hunger" (2). Vernon glaubt, seinem Buch diesen umfassenden Titel geben zu können, denn "Imperial Britain [...] played a formative role in changing the meaning of hunger and the systems for redressing it in the modern era" (3), von Adam Smith und Malthus über die irische Hungersnot bis zum ersten Generaldirektor der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der UNO (FAO), John Boyd Orr.

Als das, was es wirklich darstellt, ist dieses Werk durchaus beeindruckend. Es vereint Elemente von Sozial-, Kultur-, politischer und Wissenschaftshistorie. Behandelt werden Themen aus der britischen Geschichte wie die sogenannte humanitäre Entdeckung des Hungers, Hunger als Mittel politischer Kritik (vor allem seitens Nationalisten in den Kolonien), Hungermärsche und Hungerstreiks, die Entwicklung der Ernährungswirtschaft und die Verwissenschaftlichung der Debatten über Hunger nebst der Verlagerung von "undernutrition" zu "malnutrition". Weiter geht es - manchmal etwas unverbunden - um die Weltkriege und die "hungry thirties", Kollektivspeisungen von Werksküchen über Schulkantinen bis zu in den Kriegen florierenden, mir eher marginal erscheinenden öffentlichen Volksküchen und deren (mangelnden) Erziehungseffekt, Haushaltsmanagement und Konsumentenberatung, künstlich angereicherte Nahrung, die moderne Küche sowie politisierte Erinnerungen an den Hunger nach 1945. Dabei zeigt sich Vernon sensibel für die wichtigen geschlechterspezifischen Aspekte des Themas. Es ist auch eine Studie über wissenschaftliche Politikberatung mit Schwerpunkt auf der Zeit 1900 bis 1950; die drei meisterwähnten Personen sind (männliche) Ernährungsexperten. Zunehmend verlagert sich das Interesse des Autors allerdings hin zu einer generellen landesüblichen Diskussion des britischen Wohlfahrtsstaats im Spannungsverhältnis zur Konsumgesellschaft und damit weg von einem direkten Bezug zu Hunger.

Vernons sehr fachkundige und geschmeidig geschriebene Studie basiert vor allem auf einem reichen Fundus an veröffentlichten Quellen, sowohl zeitgenössischen wie auch einer breiten Sekundärliteratur. Zu diesen Materialien gehören auch viele Autobiographien, Zeitungsartikel, Lieder, Karikaturen, Fotos, Filme und architektonische Baupläne. Optische Quellen werden oft tatsächlich ausgedeutet. Breite des Themas und diskursanalytischer Ansatz führen verständlicherweise dazu, dass weniger als zehn Prozent der Fußnoten auf Archivalien verweisen. Übrigens sind die Fußnotenzeichen winzig, und ein Literaturverzeichnis fehlt.

Jedoch ist der geographisch und thematisch universelle Anspruch dieses Werks sehr fragwürdig. Gewiss stellt es eine Leistung dar, wenn streckenweise Teile des Empire, namentlich Indien und Irland, in die Diskussion einbezogen werden. Afrika findet gelegentlich Erwähnung. Doch keine einzige Schrift in einer anderen Sprache als Englisch taucht in den Fußnoten auf, und alle verwendeten Archivalien stammen aus britischen Archiven (mit Ausnahme eines Briefs aus dem Staatsarchiv Sansibar). Um nur einige Beispiele für die Folgen dieses Anglozentrismus anzuführen: In anderen europäischen Ländern wurden Lebensmittelrationierungen und Sozialversicherungen teils schon früher eingeführt und reichten weiter als in Großbritannien, so dass eine internationale Periodisierung hinsichtlich der Deutungen von Hunger anders ausfallen könnte als die von Vernon. Viele internationale Einflüsse bleiben unerwähnt, selbst Meilensteine wie die Atlantik-Charta von 1941 (an der die britische Regierung sogar, wenn auch unwillig, beteiligt war) mit ihrem "freedom from want", was auf Herausforderungen durch Kommunismus und Faschismus reagierte, oder die UN-Menschenrechtsdeklaration. Und nicht nur scheiterte Orr bei der FAO mit seiner Vision eines "World Food Plan", was Vernon verzeichnet, sondern die vom Autor als wichtige britische Domänen bezeichneten Unterabteilungen bzw. Referate für Ernährung und Hauswirtschaft blieben innerhalb der FAO stets klein und schwach (vgl. 153-156).

Selbstverständlich ist Hunger politisch, aber vielleicht in einem noch stärkeren Sinne als es Vernons Studie vermuten ließe. Großbritannien ist ein klassisches Land moderner Hungerpolitik; der Autor erwähnt Anklagen gegen den Kolonialismus bezüglich der Hungersnöte in Irland und Indien und kurz auch Proteste gegen die britischen Hungerblockaden im Ersten und Zweiten Weltkrieg. Doch er thematisiert nicht, wie viel und welches Kalkül hinter solcher Politik oder z.B. Verleugnung, verspäteter und mangelnder Hilfeleistung in Bengalen oder Griechenland 1941 bis 1943 stand: Wäre dies kein interessanter Diskurs über Hunger? Hunger-Blockaden in den Dekolonialisierungskriegen in Malaya und Kenia in den 1950er Jahren finden ebenso wenig Erwähnung wie Hunger-Humanexperimente in kolonialen psychiatrischen Anstalten oder Gefängnissen in den 1930ern. Revolutionsfurcht als Motiv hinter Maßnahmen gegen Hunger bzw. Rationierung bleibt praktisch ausgespart, die Rolle des Hungers etwa in der russischen Oktoberrevolution kommt nicht vor. Aus dem Buch erschließt sich, dass dramatische gesellschaftliche Krisen (1844-1848, die Weltkriege nebst unmittelbarer Nachkriegszeit und die Weltwirtschaftskrise) den Wandel von Anschauungen über Hunger und Armut entscheidend vorantrieben. Aber dies hätte expliziter gemacht werden und der Einfluss von Krisen systematisch untersucht werden können, anstatt sich in einem generellen Diskursfluss etwas zu verlieren.

Für eine Arbeit, die eine Entwicklung hin zu Denkweisen von Hunger als sozialem Übel und sozialer Verantwortung schildert, macht dieses Buch auch verblüffend wenig aus der Idee der Lebensmittelrationierung basierend auf Nahrung als Grundrecht. Er überlässt es einem unkommentierten Nebensatz im Zitat einer Betroffenen über Lebensmittelcoupons und Schulspeisung, auszudrücken dass diese ihr ein Gefühl des "right to exist" gegeben hätten (195). Gemessen an ihrer quantitativen Bedeutung bei Todesopfern des Hungers enthält das Buch überdies sehr wenig zur Baby- und Kleinkindernährung.

James Vernon legt also eine in Breite und Tiefe beachtliche, fachkundige, politisch etwas entschärfte, aber anschauliche und gut lesbare Arbeit über Hunger in wissenschaftlichen und politischen Diskursen über mehr als ein Jahrhundert vor. Zu empfehlen ist sie Fachleuten und Laien, die sich für britische Geschichte oder historische Phänomene von Mangel und Armut interessieren, auch wenn es sich keineswegs um eine umfassende moderne Geschichte des Hungers handelt.

Christian Gerlach