Silke Wagener: Geschlechterverhältnisse und Avantgarde: Raoul Hausmann und Hannah Höch, Königstein: Ulrike Helmer Verlag 2008, 233 S., ISBN 978-3-89741-275-0, EUR 24,90
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Silke Wagener widmet sich in ihrer nun als Buch vorliegenden Dissertationsschrift einem der heute bekanntesten Künstlerpaare der 1920er Jahre in Deutschland. Die Literaturwissenschaftlerin beabsichtigt "nicht einfach[,] einen kunsthistorischen Beitrag zur Künstlerin Hannah Höch" zu leisten, sondern bekennt, "das Aufspüren der Gründe für die offenkundige Benachteiligung der Frauen im Kunstbetrieb" sei ihr Ziel (26). Wagener legt den Schwerpunkt ihrer Arbeit auf die Schriften Raoul Hausmanns sowie deren geistes- und geschlechtergeschichtliche Voraussetzungen. Dabei vernachlässigt sie die kunsthistorischen Kontexte und untersucht weder Hausmanns bildnerisches Werk, noch setzt sie Hausmanns und Höchs Werke zu denen anderer Künstlerpaare im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts in Beziehung. [1]
Wageners Buch gliedert sich in Einleitung und Forschungsstand als erstes Kapitel, Darstellung ausgewählter Aspekte der kulturtheoretischen Schriften von Sigmund Freud und Otto Gross als zweites sowie die Analyse der Essays Raoul Hausmanns und seiner Briefe an Hannah Höch als drittes Kapitel. Etwas angehängt erscheinen das vierte Kapitel zu den Collagen Höchs und der Schlussteil.
In sachlicher und verständlicher Sprache, die auch wenig Vorgebildeten Freuds Konzepte des Unbewussten, des Ödipuskomplexes und des Urvaters in totemistischen Religionen nahebringen dürfte, erläutert Wagener im zweiten Kapitel patriarchale Strukturen im Weltbild des Begründers der Psychoanalyse. Als Gegenposition führt sie daraufhin die Thesen des Freud-Schülers, Psychiaters und Kulturkritikers Otto Gross an, der die "Wiedereinführung des Matriarchats" (55) propagierte und dessen Schriften Hausmann, wie Wagener zeigt, zitiert und auf die er häufig auch ohne Quellenangabe Bezug nimmt (63). Gross ging "im Gegensatz zu Freud und anderen von einer symbolischen und kulturellen Geschlechtertypologie" (60) aus und schuf so die Voraussetzungen für eine Auffassung von "Geschlecht" nicht als biologisch und also 'natürlich' vorgegeben, sondern als abhängig von gesellschaftlich bedingten Konstruktionen. Die Ausführungen Wageners sind lehrreich, doch weil sie auf die Theorien von Gross auch im folgenden Kapitel zu Hausmann vielfach zu sprechen kommt und Orientierung in Freuds Theoriegebäuden leicht auch andernorts zu finden wäre, nimmt das zweite Kapitel der Lektüre des Buchs etwas den Schwung.
Im Folgenden untersucht Wagener die zwischen 1917 und 1920 publizierten Schriften Raoul Hausmanns sowie seine Briefe an Hannah Höch. Anschließend geht sie auf Höchs Collagen ein, in die oftmals Schrift integriert ist. Für ihre Entscheidung, von Hausmann die Schriften und von Höch die Bildwerke zu betrachten, gibt Wagener drei Gründe an: Im Gegensatz zur Flut von Hausmanns Briefen an Höch seien nur wenige Briefe von Höch an Hausmann erhalten (80), die Werke Höchs hätten in der literaturwissenschaftlichen Forschung nicht hinreichend Beachtung gefunden (15), und die existierenden Veröffentlichungen hätten sich "vor dem Hintergrund einer feministischen Perspektive auf [...] die Frage nach einer weiblichen Ästhetik sowie einer Analyse des Briefwechsels beschränkt" (28). Mit diesen Begründungen entledigt sich Wagener aber nur scheinbar der methodischen Problematik, die die Mediendifferenz ihres Materials birgt. Hausmanns Briefe liefern ihr wahrlich Steilvorlagen für die These von der "Marginalisierung" historischer Frauenpersönlichkeiten (16). Doch gerade die komplexe Bildsymbolik der Collagen Höchs verschließt sich einseitigen Argumentationen - auch dann, wenn Höchs künstlerische Eigenständigkeit begründet werden soll.
Wageners Publikation ist insofern ein Gewinn, als sie die Aufmerksamkeit auf die wenig bekannten Schriften Hausmanns lenkt, die aus feministischer Perspektive überzeugend charakterisiert werden. Es ist einerseits ein Genuss, den wohl formulierten Exkursen etwa zum Dandy (111 ff.) und Hofnarren (118 ff.) sowie zum Irren (124 ff.) und Dilettanten (130 ff.) zu folgen, die der Erläuterung des "dadaistischen Männlichkeitsentwurfs" (120) dienen. Andererseits nehmen diese Passagen viel Raum ein, führen aber nur zu knapp formulierten Erkenntnissen. Ein Beispiel: Die ausführliche Betrachtung zu Herkunft und Eigenart der historischen Figur des Dandys resultiert kurz und bündig in der Erkenntnis, dass "der Dadaist in gewisser Hinsicht die ästhetische Opposition des Dandys fort[setzt], jedoch mit schärferen Mitteln." (123)
Sprachlich und inhaltlich fallen Wageners Ausführungen zu den Collagen von Hannah Höch verglichen mit den vorangegangenen Kapiteln deutlich ab. Die Autorin gibt ausführlich Interpretationen vor allem von Armin Schulz und Jula Dech wieder. [2] Ihre eigenen Auslegungen sind zum Teil schwer nachvollziehbar, etwa wenn sie den Buchstaben "O" in Höchs Collage "Bürgerliches Brautpaar (Streit)" (1919) als "Ring des Brautpaares" deutet (178), obwohl die Betrachtung des sprachlichen Zeichens im Bild eher unter lautlichen und formalen Gesichtspunkten interessant gewesen wäre. Zunehmend ist ihr Schreiben von der Anteilnahme am Schicksal der Frau und Künstlerin Hannah Höch bestimmt. Das führt zu weichgezeichneten Darstellungen, so zum Beispiel wenn sie konstatiert, die Künstlerin habe "sich für die eigene Lebendigkeit und Kreativität [entschieden], für ihr Dasein als Künstlerin und gegen die Beziehung mit einem vereinnahmenden Mann, der ihr die schöpferische Arbeit nicht zugestehen will und wiederholt ihre Kunstausübung behinderte." (191)
Silke Wagener hat mit ihrer Dissertation am Beispiel von Raoul Hausmann und Hannah Höch gezeigt, wie nachdrücklich Künstlerinnen und Künstler im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts tradierte Geschlechterrollen im Anschluss auch an damals aktuelle psychoanalytische Literatur reflektiert und diese Rollen gleichwohl fortgeschrieben haben. Andererseits waren es gerade die Widersprüche zwischen Tradition und Avantgarde, die sich auch in der Kunst als produktiv erwiesen. Die Zuspitzung dieser Widersprüche bei Künstlerpaaren konnte sich fatal auswirken, und die Unterdrückung von Frauen nicht nur im Kunstbetrieb, sondern auch in Paarbeziehungen wird aus heutiger Perspektive kaum jemand bestreiten. Diese Sichtweise, die Wagener nicht müde wird zu vertreten und zu begründen, bleibt jedoch einseitig, wenn nicht auch die persönlichkeits- und emanzipationsbildenden Kräfte der Geschlechterkämpfe beleuchtet werden. Auf sie verwies bereits Eberhard Roters 1989 im Vorwort zu "Hannah Höch: Eine Lebenscollage": "Hannah Höch hat ihre persönliche Selbständigkeit und künstlerische Souveränität errungen, indem sie sich entgegen den männlichen Vorstellungen vom Idealbild einer (durch den Mann) befreiten Frau durchgesetzt hat, und sie hat zwar nicht durch Raoul Hausmann, aber, wahrscheinlich gegen seinen Willen, an ihm zur selbständigen Künstlerschaft gefunden." [Hervorhebungen im Original] [3]
Anmerkungen:
[1] Wagener nennt u.a. "Sophie Täuber-Arp und Hans Arp, Sonja und Robert Delaunay [und] Otto Moderson und Paula Moderson-Becker" in einer Fußnote (10, Fußnote 3). Sie bezieht sich kursorisch auf: Liebe macht Kunst. Künstlerpaare im 20. Jahrhundert, hg. von Renate Berger, Köln / Weimar / Wien 2000. Aktuell zu ergänzen wäre: Barbara Schaefer / Andreas Blühm: Künstlerpaare. Liebe, Kunst und Leidenschaft, Ostfildern 2008.
[2] Wagener zitiert auf Seite 164, 166, 175-177 aus: Armin Schulz: Bild- und Vokabelmischungen sind Weltanschauungen. Zu Hannah Höchs Collage "Meine Haussprüche", in: Hannah Höch 1889-1978. Ihr Werk, ihr Leben, ihre Freunde, hg. von Berlinische Galerie, Berlin 1989; sowie auf Seite 152-160, 176, 178, 182, 194 aus: Jula Gertrud Dech: Schnitt mit dem Küchenmesser Dada durch die letzte Weimarer Bierbauchkulturepoche Deutschlands. Untersuchungen zur Fotomontage bei Hannah Höch, Münster 1981.
[3] Eberhard Roters: Vorwort, in: Hannah Höch. Eine Lebenscollage. Archiv-Edition, Bd.1,1. Abt. 1889-1917, hg. von Berlinische Galerie, Berlin 1989, 41.
Marvin Altner