Birgitt Borkopp-Restle: Der Aachener Kanonikus Franz Bock und seine Textilsammlungen. Ein Beitrag zur Geschichte der Kunstgewerbe im 19. Jahrhundert, Riggisberg: Abegg-Stiftung 2008, 282 S., ISBN 978-3-905014-39-6
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Der Aachener Kanoniker Franz Bock (1823-1899) gehört zu den vielen Gelehrten, die aus der wild wuchernden "Neugotik" einen ordentlichen Zweig am Baum des wissenschaftlichen Historismus machten. Der Wissenschaftler Bock ist zwar nie so bekannt gewesen wie etwa sein englischer Kollege A.W.N. Pugin, der vor allem als Architekt berühmt wurde, dennoch ist Bock keineswegs vergessen. Seine Publikationen sind für das Gebiet des mittelalterlichen Kunstgewerbes bis heute eine wichtige und meist auch sehr zuverlässige Quelle.
Geschätzt ist besonders seine dreibändige Arbeit zur "Geschichte der liturgischen Gewänder des Mittelalters, oder Entstehung und Entwicklung der kirchlichen Ornate und Paramente, in Rücksicht auf Stoff, Gewebe, Farbe, Zeichnung, Schnitt und rituelle Bedeutung [...]" (Bonn 1859-71). Nicht zuletzt konnte er die großen mittelalterlichen Paramentenbestände in Halberstadt, Brandenburg, Stralsund und Danzig erstmals genauer untersuchen und teilweise publizieren. Ein vergleichbares Werk hatte es vorher nicht gegeben. Die Arbeit mit ihren insgesamt fast tausend Seiten wird durch das heute bekanntere Buch "Die liturgische Gewandung [...]" von Joseph Braun (Erstausgabe 1907) nicht ersetzt, sondern ergänzt. Das liegt vor allem an den technisch-handwerklichen Aspekten, die Bock in den Mittelpunkt seiner Untersuchungen stellte, war doch ein zentrales Ziel seiner Tätigkeit die Erneuerung der Paramentenkunst.
Während seit ca. 50 Jahren diese Kunstform in die Bedeutungslosigkeit abgeglitten ist, war sie im 19. Jahrhundert ein wichtiger Bereich der Textilkunst, die ihrerseits eine große Rolle bei der - historisch informierten - Erneuerung der Ornamentik und der Kunst insgesamt spielte. Gottfried Semper widmete nicht zufällig der Textilkunst den ersten Band seiner Abhandlungen über den "Stil in den technischen und architektonischen Künsten" (1860). Es ging hier also nicht um ein Randthema, weshalb es sogar zu einer Art textilem Wettstreit zwischen den Nationen kam. Selbst das Luthertum, das ja wichtigste mittelalterliche Paramente bewahrt hatte, versuchte, eine eigene neue Paramentik zu schaffen. In diesem großen Rahmen steht auch die Tätigkeit Franz Bocks. Sie war grundsätzlich praktisch ausgerichtet. Das wird besonders deutlich bei seiner Sammeltätigkeit. Auch in dieser Hinsicht ist er bis heute bekannt, ja präsent, denn er sammelte eben nicht einfach zu seinem Vergnügen, sondern verkaufte die von ihm zusammengetragenen Stoffproben und Objekte an die Kunstgewerbemuseen, die zu seiner Zeit im Aufbau begriffen waren. Da diese neue Form der Museen in erster Linie als Vorlagensammlungen für Industrie und Handwerk dienen sollten, entsprachen Bocks Interessen völlig den Zielsetzungen dieser Einrichtungen.
Eine Arbeit über Franz Bock selbst hat es bisher nicht gegeben. Mit der vorliegenden Studie von Birgitt Borkopp-Restle wird diese Lücke nun mit einem hervorragend gelungenen Buch gefüllt. Es ist nicht nur ein wichtiger Beitrag zur Geschichte der Erforschung der Textilkunst, sondern auch zur Geschichte der Kunstgewerbemuseen. Überhaupt ist es überraschend zu sehen, wie viele Themen angeschnitten werden müssen, um Bock zu würdigen. Im Mittelpunkt stehen - völlig berechtigt - alle Fragen, die mit der Textilkunst verbunden sind, denn auf diesem Gebiet hat Bock zweifellos am intensivsten gewirkt.
Nach einer instruktiven Einleitung folgt am Beginn der Untersuchung ein kurzes Kapitel "Voraussetzungen und Vorbilder" (13-53). Natürlich geht es um den Kölner Dom, um Viollet-le-Duc, Didron und A.W.N. Pugin. Sehr deutlich wird die Bedeutung Englands herausgestellt.
Der erste Hauptteil des Buches trägt die Überschrift "Der Beitrag Franz Bocks zur Wiederbelebung mittelalterlicher Kunsttraditionen im 19. Jahrhundert" (55-144). Schon während seines Studiums in Bonn beschäftigte er sich mit sakraler Kunst und war bereits damals Mitglied des "Akademischen Dombauvereins" (56). Prägend für seine weitere Laufbahn war sein Kontakt zu den Aachener Schwestern vom armen Kinde Jesus, die eine bedeutende Paramentenwerkstatt unterhielten. Für die Aachener Schwestern begann Bock, neue Vorlagen zu suchen, von denen er in den Sakristeien der Umgebung allerdings nur wenige finden konnte. Nach seiner Priesterweihe 1850 wurde er, vielleicht auf eigenen Wunsch, Kaplan in der Textilstadt Krefeld, wo es schon bald zur Zusammenarbeit mit der hier ansässigen Firma Casaretto kam. Ebenso wichtig war die 1851 erfolgte Gründung des "Marien-Vereins" in Krefeld, der es sich zur Aufgabe gemacht hatte, neue Paramente nach mittelalterlichen Vorlagen zu schaffen (60). Gerade derartige Vereine, deren Zahl im Laufe der Zeit immer größer wurde, belegen die gesellschaftliche Relevanz, die die Textilkunst im späten 19. Jahrhundert besaß. Es ist zwar nur noch schwer vorstellbar, aber die Paramentenherstellung hatte ein großes Mobilisierungspotenzial, gerade in den rheinischen Zentren der Textilfabrikation und vor dem Hintergrund der beginnenden Auseinandersetzungen zwischen protestantischem Staat und katholischer Kirche. Schon bald erweiterte Bock seine Sammelreisen und wurde durch großzügige Beurlaubungen von seinen kirchlichen Vorgesetzten unterstützt. Offenbar hatten auch sie die Bedeutung der kirchlichen Kunst erkannt. Wiederum wird man an das Vorbild England denken, wo im Zuge der Katholikenemanzipation ein dezidiert katholischer Künstler wie Augustus W.N. Pugin als Architekt und Gestalter geradezu epochenprägend wurde, sogar mit der Ausstattung des Londoner Parlamentsgebäudes.
Schon früh hatte Bock begonnen, selbst Textilien zu sammeln. Gern wird ihm unterstellt, er habe sich unberechtigt aus den Kirchenschätzen bedient und heimlich Musterproben ausgeschnitten. Gelegentlich wird der Vorwurf des Diebstahls erhoben. Es ist ein Verdienst der Verfasserin, die Verhältnisse gerade zu rücken. Offensichtlich hat Bock nämlich den größten Teil seiner ersten Sammlung bei Händlern erworben (87), waren doch Paramente während der Säkularisation massenweise auf den Markt gekommen. Wenn Bock heute wegen seiner Eingriffe in historische Ensembles kritisiert wird, so dürfte das nicht zuletzt eine Folge seiner eigenen Arbeit sein, denn er war immerhin einer der ersten, der historische Textilkunst überhaupt schätzte. Da diese Wertschätzung aber zu seiner Zeit eben noch keineswegs verbreitet war und die meisten mittelalterlichen Paramente auch nicht mehr benutzt wurden, haben ihm - und nicht nur ihm - die Verantwortlichen immer wieder gestattet, Proben zu entnehmen.
Der zweite große Hauptteil widmet sich den "Sammlungen Franz Bocks an den Kunstgewerbemuseen" (145-225). In einem ersten Kapitel werden die mittelalterlichen Gewebe und Stickerein behandelt, die in die Museen von Paris, London, Lyon und Aachen gelangten (146-62). Bemerkenswert ist, wie schnell sich Bocks ursprünglich nur auf das Mittelalter bezogene Interessen im Sinne historistischen Sammelns und Dokumentierens auch auf spätere Epochen ausdehnten. Gerade dieser Aspekt wird deutlich herausgearbeitet. Es folgt ein Kapitel über die Spitzensammlungen (164-8), danach eines über die spätantiken ägyptischen Stoffe (168-78). Vor allem die Beziehungen Bocks zum South-Kensington-Museum sind dabei von besonderem Interesse (149-53). Weiterhin behandelt werden "Sammlungen und kleinere Gruppen verschiedener Textilien und anderer kunsthandwerklicher Gegenstände" (179-202), die nach Hamburg, Düsseldorf, Berlin und Köln gelangten. Abgerundet wird die Untersuchung mit Hinweisen auf Fälschungen (202-216) sowie einem interessanten Ausblick auf die Rezeptionsgeschichte der Bockschen Sammlungen an den Kunstgewerbemuseen (216-25).
Am Ende des Buches steht eine Liste der wichtigsten Verkäufe Bocks (236-7) sowie sein, außerordentlich sorgfältig bearbeitetes, umfangreiches Schriftenverzeichnis (239-60). Natürlich gibt es auch ein allgemeines Literaturverzeichnis und ein Register.
Birgit Borkopp-Restle ist eine hervorragende Studie gelungen, die mit Detailgenauigkeit, aber ohne Pedanterie einen wichtigen Teilaspekt der Kunstgeschichte des 19. Jahrhunderts behandelt. Man soll eben hin und wieder den Blickwinkel wechseln, dann sieht man nicht nur Neues, sondern auch das bekannte Alte in einem anderen Licht. Das ist allemal anregend. Das vorliegende Buch wäre darum all jenen besonders zu empfehlen, die sich für das untersuchte Thema nicht interessieren.
Christian Hecht