Frank Bösch: Öffentliche Geheimnisse. Skandale, Politik und Medien in Deutschland und Großbritannien 1880-1914 (= Veröffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts London; Bd. 65), München: Oldenbourg 2009, VI + 540 S., 13 Abb., ISBN 978-3-486-58857-6, EUR 59,80
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Frank Bösch, seit 2007 Professor für Fachjournalistik Geschichte am Historischen Institut der Justus-Liebig-Universität Gießen, hat in den vergangenen Jahren mehrfach zur Rolle der Medien in der Neuzeit veröffentlicht und sich als Kenner der Presse, des Journalismus und der Geschichte der Öffentlichkeit ausgewiesen. Der vorliegende Band zu Skandalen in der Zeit von 1880 bis 1914 stellt eine etwa 500 Textseiten umfassende vergleichende Studie zu dem Zusammenhang von Medien und Gesellschaftsordnungen in Großbritannien und dem Deutschen Reich dar.
In acht Kapiteln untersucht der Autor politische Skandale als "Ausdruck und Motor" (4) sozialer und normativer Veränderungen. Nach einer kurzen Einleitung zur Begriffsgeschichte und Definition von Skandalen folgen Fallstudien zu sechs Schwerpunktthemen: Homosexualität, Ehebruch, Kolonialskandale, Journalismus, Monarchie und Korruption. Diese werden anhand ausgewählter Einzelfälle kapitelweise für die britische und für die deutsche Gesellschaft analysiert. Als achtes Kapitel folgt ein Fazit, in dem der Autor die Zusammenhänge von Medien, Politik und Öffentlichkeit im Zusammenhang mit Normen und Deutungen noch einmal diskutiert.
Das Erkenntnisinteresse der Studie teilt Bösch in vier Bereiche ein: den Wandel von Normen und Deutungsmustern, den Formwandel von Politik, die Anatomie von Skandalen und die Spezifika der britischen und deutschen Kultur. Skandale sollen als Möglichkeit genutzt werden, Normen einer Gesellschaft genauer zu analysieren. "Denn sie zeigen verdichtet, wie Deutungen über gesellschaftliche Verhaltensregeln entstanden." (3) Während etwa der Skandal über die Homosexualität Friedrich Alfred Krupps zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine parlamentarische und öffentliche Debatte über die rechtlichen Konsequenzen des Tatbestands "Homosexualität" in Deutschland auslöste, verursachte der Ehebruch-Skandal des britischen Abgeordneten und Kabinettsmitglieds Charles Dilkes Mitte der 1880er Jahre eine intensive Diskussion über die Bedeutung moralischer Ansprüche für eine politische Karriere als Spitzenpolitiker.
Der Band stellt nicht primär eine Fundgrube mittlerweile vergessener Skandalfälle dar, sondern besticht durch die detaillierte Analyse medialer und politischer Kommunikation. Statt oberflächlich die zunehmende Bedeutung und Einflussmöglichkeiten der Skandalpresse zu postulieren, erläutert Bösch die Mechanismen, die sich hinter der Produktion von Nachrichten verbergen. Dabei eröffnet die Studie eine ganze Reihe unerwarteter Einblicke in die Medienlandschaft des ausgehenden 19. Jahrhunderts. So weißt Bösch überzeugend nach, dass die Funktion der Printmedien bei der Entstehung von Skandalen nicht im Aufdecken des Skandals selbst zu sehen ist. Statt einer investigativen Rolle diente die Presse vielmehr als Multiplikator, Sprachrohr und Plattform verschiedener Interessensgruppen, die oftmals Oppositionsgruppen wie die irischen Nationalisten oder die Sozialdemokratie im Deutschen Reich einschlossen.
Weder verfügte die Presse über die Möglichkeiten, Skandale zu erzeugen noch über die Fähigkeit, solche zu verhindern. Vielmehr sind die Medien als ein Element der politischen Kultur zu verstehen, in der dem "Skandal" eine größere Gestaltungs- und vor allem Zerstörungskraft zukam, als dies zu Beginn des Jahrhunderts der Fall war. Die Zusammenhänge zwischen Printmedien, der politischen Welt, normativen Ordnungen und rechtlichen Institutionen zeichnet Bösch anschaulich nach, indem er die Rolle von Parlamenten, Gerichten und Politikern im Zusammenspiel mit der Presse diskutiert. So kann er für Großbritannien nachweisen, dass die allgemein postulierte Trennung von Politik und Presse für das späte 19. Jahrhundert einer empirischen Untersuchung nicht standhält. Stattdessen wurden Vorgehensweisen bei skandalträchtigen Themen zwischen britischen Verlegern, Journalisten, Politikern und Ministern detailliert abgesprochen.
Damit relativiert die Studie nicht nur die oft postulierte Vorreiterrolle der "Times" als Aushängeschild eines unabhängigen Journalismus, sondern weist durch die Interpretation von Skandalen ebenso nach, dass sich die Trennung von Boulevard-Journalismus, der so genannten Yellow Press, und angeblich hochwertigen Zeitungsverlagen nicht anhand des Umgangs der Redaktionen mit Fakten, Vermutungen und Beschuldigungen nachvollziehen lässt. Wie nachlässig die Redakteure der "Times" mit der Prüfung von Informationen umgingen, zeigt der Skandal um eine der zentralen Persönlichkeiten in der Auseinandersetzung zwischen England und Irland in der Frage des "Irish Home Rule". Die von Richard Pigott gefälschten Briefe des Irenführers Charles Sterwart Parnell akzeptierte die Zeitung ohne ausreichende Prüfung und beschuldigte Parnell in der Auseinandersetzung mit der Regierung in London, auch vor terroristischen Gewalttaten nicht zurückzuschrecken. Die Veröffentlichung der Fälschungen überrascht umso mehr, als W.T. Stead sich geweigert hatte, diese "ungeprüften Belege" (335) in seiner Pall Mall Gazette drucken zu lassen. Der "Parnellism and Crime" Skandal eröffnete bereits für Zeitgenossen eine öffentliche Diskussion über die Verhaltensnormen von Journalisten, die sich so auch durchaus selbst als Thema eines Medienskandals wiederfinden konnten.
Als komparative Studie überzeugt der Band vor allem, indem er nationale Stereotype aufbricht oder relativiert. Britische Liberale zeigten sich in der Debatte über Homosexualität weniger weltoffen als allgemein angenommen. In den deutschen Medienskandalen kam dem Reichstag eine wesentlich wichtigere Rolle zu, als dies die Historiographie zur parlamentarischen Politik im Kaiserreich vermuten ließe. "Während sich im deutschen Kaiserreich stärkere Modernisierungsprozesse als erwartet ausmachen ließen, zeigten die britischen Skandale vielfach, dass man die politische und kulturelle Liberalität Großbritanniens nicht überschätzen sollte." (470).
In dem deutsch-britischen Vergleich werden auch Unterschiede deutlich. Für die zentrale Rolle von Verlegern in Großbritannien, allen voran W.T. Stead, findet sich kein Pendant in der Mediengeschichte des Deutschen Reichs. Die Person Steads ist in dem Band sehr präsent, auch weil er die Selbststilisierung des Journalisten, die Verknüpfung von Politik und Presse und den Versuch der Einflussnahme auf Themen der nationalen Politik wie fast kein zweiter verkörperte.
Kritiker werden dem Band vorwerfen, dass viele der Skandale in großen Teilen bereits bearbeitet wurden, aber Bösch vermag durch einen methodisch überzeugenden Zugang und eine an Entwicklungen und Strukturen orientierte Fragestellung wesentliche und wichtige Erkenntnisse zu erarbeiten, die so bisher nicht bekannt waren. Der Autor vermag sogar, der umfangreichen Historiographie zur Daily-Telegraph-Affäre um Kaiser Wilhelm II. noch eine weitere Interpretation hinzuzufügen. Für ihn nutzt Wilhelm II. das Interview als neue, aus den USA übernommene Form der medialen Selbstdarstellung, allerdings ohne die weiteren Konsequenzen eines gedruckten Gesprächs zu überdenken.
"Öffentliche Geheimnisse" veranschaulichen, wie verletzlich die politischen Eliten des späten 19. Jahrhunderts sowohl im Britischen Empire als auch in Deutschen Kaiserreich waren. Besonderes Verdienst der Studie ist es nachzuweisen, welche Rolle den Medien dabei zukam. Der Band räumt mit vereinfachten Erklärungsmustern auf und weist nach, dass die Vorstellung von der Presse als "vierter Gewalt" sich nicht in den Thesen vom Aufstieg und der zunehmenden Kommerzialisierung erschöpfen. Bösch liefert so einen wichtigen Baustein in der Mediengeschichte der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg.
Torsten Riotte