Rezension über:

Christian Haußer: Auf dem Weg der Zivilisation. Geschichte und Konzepte gesellschaftlicher Entwicklung in Brasilien (1808-1871) (= Beiträge zur Europäischen Überseegeschichte; Bd. 96), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2009, 349 S., ISBN 978-3-515-09312-5, EUR 48,00
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Rezension von:
Sebastian Huhn
German Institute of Global and Area Studies, Hamburg
Redaktionelle Betreuung:
Susanne Lachenicht
Empfohlene Zitierweise:
Sebastian Huhn: Rezension von: Christian Haußer: Auf dem Weg der Zivilisation. Geschichte und Konzepte gesellschaftlicher Entwicklung in Brasilien (1808-1871), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2009, in: sehepunkte 9 (2009), Nr. 9 [15.09.2009], URL: https://www.sehepunkte.de
/2009/09/15820.html


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Christian Haußer: Auf dem Weg der Zivilisation

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Das aus Christian Haußers Dissertation hervorgegangene Buch begründet sich aus einer scharfen Kritik des Autors an der ideengeschichtlichen Interpretation Lateinamerikas im 19. Jahrhundert. Haußer kritisiert die Beharrlichkeit des Klischees lateinamerikanischer Rückständigkeit als Erbe der Kolonialzeit. Dieser These werde in den Sozialwissenschaften bis in die Gegenwart selten widersprochen, während empirische Belege weitgehend ausblieben: "Zwar ist das Thema der Entwicklung Lateinamerikas aktuell geblieben, nach wie vor herrscht dabei aber die Perspektive der Überwindung vermeintlich altbekannter, in der Regel tief verwurzelter und bis in die Gegenwart hineinreichender Hemmnisse vor." (14) Die ideengeschichtliche Forschung habe sich mit Blick auf das 19. Jahrhundert einerseits auf den politischen Liberalismus im Kontext der Unabhängigkeitsprozesse konzentriert und andererseits in geringerem Maße auf ökonomische Entwicklungsvorstellungen in Lateinamerika. Eine produktive lateinamerikanische Diskussion über sozialen Wandel wurde in der Sicht des Autors von der Forschung bislang weitgehend ignoriert. Im Falle Brasiliens werde in der Geschichtswissenschaft erst dem Aufkommen positivistischer und rassistischer Ideen am Ende des 19. Jahrhunderts Beachtung geschenkt. Konzepte sozialen Wandels und ihre Wirkungskraft nach der Unabhängigkeit seien bislang nicht untersucht.

Mit einer begriffsgeschichtlichen Arbeit über nationale Geschichtsschreibung und Entwicklungsvorstellungen anhand des Konzepts der Zivilisation im Brasilien des 19. Jahrhunderts zieht Haußer die Konsequenzen aus seiner Kritik. Er geht der Entwicklung des Begriffs der Zivilisation und der mit ihm transportierten Entwicklungsvorstellungen im Kaiserreich Brasilien nach. Den Kern seiner Untersuchung bilden die sechs Jahrzehnte nach der Umsiedlung des portugiesischen Königshauses nach Brasilien. Haußer zeigt auf, dass die vergleichsweise hohe ökonomische oder soziale Rückständigkeit im 19. Jahrhundert nicht der Kontinuität kolonialer Tradition im Denken der brasilianischen intellektuellen, politischen und wirtschaftlichen Elite geschuldet war. Gleichzeitig weist er nach, dass nicht nur kopierte geistige Einflüsse aus Europa zu einem Modernisierungsdenken in Brasilien beitrugen, sondern vor allem eine spezifisch brasilianische Debatte, die durchaus gesellschaftliche Konsequenzen hatte.

Im ersten Kapitel zeichnet Haußer zunächst die Geschichtsschreibung zu Brasilien in der Kolonialzeit nach, die im 18. Jahrhundert ein Privileg der portugiesischen Kolonialmacht war. Die zentralen Fragen waren in dieser Zeit, wie die Kolonie ins Verhältnis zu Portugal und die indigene Bevölkerung zu den Portugiesen zu setzen sei. Haußer datiert dabei die Genese des Begriffs der Zivilisation und vor allem seiner Vorformen in der portugiesischen Sprache im späten 18. Jahrhundert. Begrifflich gefasst wurde damit aber im Gegensatz zum 19. Jahrhundert ein statischer Zustand, dem das Konzept der Barbarei gegenüberstand und der vor allem in der Diskussion um die "Indios" als gesellschaftlicher Gruppe gebraucht wurde.

Das zweite Kapitel rekonstruiert vor allem anhand der Schriften des einflussreichen brasilianischen Intellektuellen und Politikers José da Silva Lisboa, wie sich der Begriff der Zivilisation nach 1808 im Geiste der Aufklärung wandelte und zum Leitbegriff eines neuen Geschichts- und Entwicklungsverständnisses wurde. Der Begriff und die von ihm bezeichnete Vorstellung enthielten nun sowohl die Möglichkeit einer räumlichen Ausdehnung als auch eine zeitliche Dynamik: "veränderliches Geschehen wurde als Zivilisation überhaupt erst begrifflich erfasst." (307) Der Geschichte kam damit die Aufgabe zu, Lehren aus der Vergangenheit zu ziehen um sie für die Gestaltung der Zukunft nutzbar zu machen.

Nach der Unabhängigkeit und vor dem Hintergrund des durch die Aufklärung beeinflussten neuen philosophischen Geschichtsverständnisses machte sich die intellektuelle und politische Elite Brasiliens nach 1822 daher auf die Suche nach einer eigenen Geschichte. Im dritten Kapitel legt Haußer die Verständigung über das Wesen dieser nationalen Geschichte Brasiliens dar. Haußer rekonstruiert den langen Weg zur Allgemeinen Geschichte Brasiliens, die Francisco Adolfo Varnhagen in den Jahren 1854 und 1857 veröffentlichte. Dazu dienen Haußer Quellen aus dem Umfeld des Instituto Histórico e Geográfico Brasileiro (IHGB), das 1839 als eine Abteilung der Sociedade Auxiliadora da Industria Nacional, der seinerzeit wichtigsten Institution zur zukünftigen politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Gestaltung des Kaiserreichs, gegründet wurde. Maßgeblich für die Diskussion und das anschließende Werk Varnhagens war dabei eine Denkschrift des bayrischen Naturforschers Carl Friedrich Phillip von Martius über das Wesen einer zu verfassenden Nationalgeschichte Brasiliens, die er 1843 an das IHGB schickte. Im Zentrum dieses spezifisch brasilianischen und zukunftsweisenden Geschichtskonzepts stand die wechselseitige historische Beeinflussung der "Indios" und Portugiesen in der brasilianischen Geschichte.

Weniger bei Martius, aber in der an Vernhagens Werk anschließenden Diskussion wurde die Zivilisation dann endgültig zum Leitbegriff einer zukunftsorientierten Geschichte Brasiliens. "Eine richtig, das heißt philosophisch verstandene Geschichte zeigt die Vergangenheit, so wie sie wirklich war und eröffnet dadurch erst die Gestaltung der Zukunft" (252), so Haußers Resümee der geschichtsphilosophischen Debatte, und: "Die Zivilisation gewährleistete nicht nur die richtige Erkenntnis der Vergangenheit, sie war vielmehr diese Erkenntnis." (310)

Unter der Überschrift "Zivilisation und Nation" rekonstruiert Haußer diese auf dem Begriff der Zivilisation basierende Vorstellung im abschließenden Kapitel seiner Arbeit. Er zeichnet die Wirkungsmacht des Leitbegriffs auf die brasilianische Entwicklung - die er in allen gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Bereichen Brasiliens verortet - vor allem anhand der Diskussionen über die Erziehung und Einbindung der "Indios" und über die Abschaffung der Sklaverei nach.

Haußer resümiert vor dem Hintergrund seiner Kritik an der Ideengeschichte: "Die Zivilisation in Brasilien ist mit ihrer Fähigkeit, sich die besonderen Verhältnisse vor Ort anzueignen, eben kein Beleg für intellektuelles Unvermögen [...] Es war vielmehr gerade die Fähigkeit des Begriffs, sich auf die jeweiligen Gegebenheiten einzulassen, der sich der Erfolg der Zivilisation und ihr Vermögen, in diesen Gegebenheiten zu wirken, verdankte. In der Zivilisation zeigt sich so die begriffsgeschichtlich erarbeitete Verbindung von Denken und dessen gesellschaftlichem Niederschlag." (321)

Ein wenig zu kurz kommt in Haußers Werk mit nur wenigen Absätzen die theoretische Diskussion und Verortung seines Ansatzes der Begriffsgeschichte, vor allem auch in Abgrenzung zu anderen Konzepten. Eine ausführlichere Reflektion des eigenen Zugangs wäre angesichts der scharfen Kritik Haußers an anderen geschichtswissenschaftlichen Ansätzen und Lateinamerikainterpretationen konsequent gewesen. Schließlich entschärft der Autor diesen Einwand aber zum Teil dadurch, dass er in seiner Arbeit aufzeigt, mit welchem Wert Begriffsgeschichte geschrieben werden kann. Neben einer emanzipatorischen Perspektive ist dabei Haußers detaillierte Auseinandersetzung mit den Quellen positiv hervorzuheben, die er von vielen Seiten beleuchtet und deren Autoren er ohne Ironie als Interpretierende und Gestalter ihrer Zeit zu Wort kommen lässt. Abschließend ist zu betonen, dass Auf dem Weg der Zivilisation nicht nur lesenswert sondern auch sehr leserlich ist. Trotz gelegentlicher Redundanzen ist das Buch durch eine klare Sprache und den schlüssigen Aufbau seiner Erzählung nicht nur eine gewinnbringende sondern auch eine erfreuliche Lektüre.

Sebastian Huhn