Max Bloch: Albert Südekum (1871-1944). Ein deutscher Sozialdemokrat zwischen Kaiserreich und Diktatur. Eine politische Biographie (= Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien; Bd. 154), Düsseldorf: Droste 2009, 357 S., ISBN 978-3-7700-5293-6, EUR 49,80
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Ein Photo: eine, wie uns die Legende mitteilt "undatierte Atelieraufnahme", entstanden vermutlich um 1890. Auf einem Stuhl, eine Art Gartenmöbel, zusammengefügt aus naturbelassenen Ästen, sitzt ein adrett gekleideter junger Mann, kaum 20 Jahre alt, hinter sich ein breitwandiges Gemälde mit einem baumbestandenen See, auf dem Kopf einen Hut, einer 'Melone' ähnlich, bewehrt mit ledernen Fingerhandschuhen, die Beine übereinander geschlagen, in der Linken einen Spazierstock, auf der Nase einen Zwicker. Kein Zweifel, ein besserer Herr oder einer, der sich als solcher inszeniert: in der Pose des distanzierten, ein wenig gelangweilten Stutzers. Tatsächlich handelt es sich um Albert Südekum, Sohn eines Gastwirts und Hoteliers aus dem Niedersächsischen, ein angehender Student, der alsbald den Kieler Soziologen Ferdinand Tönnies als väterlichen Freund gewinnen und sich der Sozialdemokratie anschließen sollte, wo er sich im Kreis der undogmatischen Pragmatiker bewegte, die den Höhenflügen marxistischer Theorie, den Debatten um die 'richtige' Auslegung der Welt nichts abgewinnen mochten.
Seinen distinguierten Habitus verlor Südekum darüber allerdings nicht, im Gegenteil. Er stand im Ruf, wie 1920 Erich Dombrowski alias Johannes Fischart notierte, eine bemerkenswert große Sammlung von Krawatten und Lackschuhen zu besitzen. Die Urteile, die über ihn gefällt wurden, reichten von "Generalgarderobier des Zukunftsstaates" bis hin zu "Bindeschlipsproletarier". Begünstigt durch eine reiche Heirat, ließ er sich nach seinen journalistischen Wanderjahren, die ihn durch die sozialdemokratische Provinzpresse geführt hatten, in Berlin-Zehlendorf nieder, erwarb dort eine komfortable Villa, die er zu einem Ort parteiübergreifender Geselligkeit und Kontaktpflege machte. Dort versammelte sich die Prominenz des Revisionismus: Kollegen wie Paul Göhre, Eduard David, Wolfgang Heine, allesamt keine 'geborenen' Sozialdemokraten, sondern Genossen "mit Glacéhandschuhen und Bügelfalte", denen die revolutionäre Linke mit tiefem, unausrottbarem Misstrauen begegnete.
Die Partei, die sich auf ihre Tradition einiges zugute hält, ist mit Albert Südekum, der ihr im Frühjahr 1933 den Rücken zugekehrt hatte, nicht immer pfleglich umgegangen. Dieses Schicksal teilt er mit etlichen Weggefährten: mit Gustav Noske, Carl Severing und anderen. Fast hat es den Anschein, als schämte man sich ihrer. Für die Protagonisten der Auf- und Umbrüche in den späten 60er Jahren waren sie ohnehin Unpersonen, Negativ- oder gar Hassfiguren. Als Südekums Tochter im März 1950 den Nachlass des Vaters dem Archiv der SPD überantworten wollte, wurde ihr beschieden, man habe für derartige Projekte kein Geld. Daraufhin gelangte er in die Obhut des Bundesarchivs, wo er lange schon als Fundus von hohem historischem Wert genutzt wird. Von den Materialien, die er enthält, haben viele Studien und Dokumentationen profitiert: über die Sozialdemokratie im Krieg 1914/18, den Interfraktionellen Ausschuss und die Tätigkeit der der SPD-Fraktion im Reichstag, um nur diese zu nennen.
Dass Südekum nun seinen Biographen gefunden hat, verdanken wir dem Urenkel Max Bloch, der neben zahlreichen Nachlässen auch Papiere, nicht zuletzt solche privater Natur, auswerten konnte, die sich im Besitz der Großmutter Rosemarie Bloch befanden. Der Autor versteht seine Arbeit als Beitrag, einer ganzen Generation, der "Generation Ebert" nämlich, wie er in Anlehnung an Bernd Braun formuliert, Gerechtigkeit widerfahren zu lassen: jenen Männern, die vor und nach 1918 versucht hatten, so etwas wie eine "'Volksgemeinschaft' der Mitte" zusammen zu bringen: staatstragend, reformorientiert, kompromissfähig, verantwortlich, fern von Schablone und Scheuklappen, in erster Linie dem Gemeinwohl verpflichtet oder dem, was sie dafür hielten, weniger, jedenfalls nicht in erster Linie den Interessen der Partei, die im Konfliktfall hintan zu stehen hatten. "In puncto Vaterlandsliebe und deutscher Gesinnung" habe er sich, vertraute er im November 1933 seinem Kollegen Otto Landsberg an, "von keinem übertreffen" lassen.
Was das im Einzelnen hieß, erfahren wir bei Max Bloch. Dieser erzählt das Leben seines Protagonisten, dem er ersichtlichen Respekt zollt, entlang der Chronologie, begleitet es über drei Epochen der deutschen Geschichte: im Kaiserreich, in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus. Da Südekum kein Unbekannter ist, in der Partei bis 1920 eine zwar stets kontrovers diskutierte, aber unleugbar bedeutende Rolle gespielt hat, sind umstürzend neue Erkenntnisse nicht zu erwarten, aber unser Autor versteht es, die Person im Kontext der Sozialdemokratie wie der deutschen Innen- und Außenpolitik außerordentlich plastisch werden zu lassen. Wir Leser begleiten Südekum auf den verschiedenen Stationen, die er durchlaufen hat: als Redakteur der Leipziger Volkszeitung unter Bruno Schoenlank, der ihm nicht wohl gesonnen war, als Chef der Fränkischen Tagespost in Nürnberg und der Sächsischen Arbeiter-Zeitung in Dresden, wir begleiten ihn auf seinem innerparteilichen Weg nach oben, als Herausgeber der Kommunalen Praxis, mit der er ein Feld beackerte, das die Sozialdemokratie lange Jahre hatte brach liegen lassen, wir beobachten ihn als Abgeordneten des Reichstags, wo er zu den über die Fraktionsgrenzen hinweg beachteten Rednern zählte und im August 1914 zu den Architekten der sozialdemokratischen Burgfriedenspolitik avancierte.
Im Krieg erreichte er den Gipfel seines Wirkens, wurde von der Reichsleitung mit zahlreichen Missionen im neutralen und verbündeten Ausland betraut. In dem Maße, wie sich die militärische Lage verschlechterte, der Krieg sich in einen Abnutzungs- und Zermürbungskrieg verwandelte, der täglich neue und höhere Opfer forderte, geriet Südekum, der "Regierungssozialist", allerdings zunehmend ins Kreuzfeuer der Kritik, vorgetragen nicht zuletzt aus den eigenen Reihen. Seine Berufung zum Preußischen Finanzminister in den Monaten des revolutionären Übergangs war einerseits Anerkennung seiner politischen Qualifikationen, andererseits aber der Anfang vom Ende seiner Karriere. Durch Gespräche mit Repräsentanten der Putschregierung Kapp im Frühjahr 1920 bei den Genossen, die ihm doppeltes Spiel vorwarfen, diskreditiert, musste er seinen Stuhl räumen. Verantwortliche Positionen wurden ihm danach versagt, alle Versuche, erneut im Staatsdienst Fuß zu fassen, scheiterten am Veto der Partei. Sein Austritt im März 1933 rückte ihn, wie Bloch konstatiert, "in das Zwielicht politischen Renegatentums". Davon profitiert hat er allerdings nicht. Verheiratet mit einer jüdischen Frau, musste er aller Ämter und Funktionen entsagen, das Leben wurde dadurch materiell außerordentlich eng, der Sohn emigrierte in die USA, er selber starb im Februar 1944. Seine "Lebensarbeit" wird "ihre Bedeutung nie verlieren", würdigte ihn Wilhelm Leuschner: "So ehren wir ihn heute an seinem Grabe, und so werden wir auch sein geistiges Erbe in uns weitertragen." Dass dazu die Historiographie ihr Scherflein beizutragen hat, beitragen muss, demonstriert eindringlich die hier angezeigte Biographie.
Jens Flemming