Wolfram Wette: Militarismus in Deutschland. Geschichte einer kriegerischen Kultur, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2008, 309 S., ISBN 978-3-89678-641-8, EUR 24,90
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Wolfram Wette, ausgewiesener Fachmann zu Fragen der deutschen Militärgeschichte und der Friedensforschung, präsentiert in diesem gut lesbaren Buch die Einflüsse des Militarismus auf die deutsche Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Der Begriff des "Militarismus" wurde als politischer Kampfbegriff noch vor der Reichseinigung geboren. Wette bietet, unter Heranziehung einer Reihe lexikalischer Definitionen, eine Vielfalt von Möglichkeiten, was dieser Begriff bedeuten könnte. Am besten wird das Anliegen dieses Buches durch die folgende Definition aus den "geschichtlichen Grundbegriffen" umschrieben. Dort wird der Begriff des Militarismus als "umfassend und unscharf" bezeichnet und auf die "im Ursprung pejorative-polemische Sinngebung des als Kampfbegriff in den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts aufgekommenen Worts" verwiesen. "Im Begriff Militarismus" werden - oft in schlagwortartigem Gebrauch - Entartungen, Gefahren, als (nicht) notwendig angesehene Erscheinungsformen oder ein unangemessenes Übergewicht des Militärs in Staat und Gesellschaft zusammengefaßt."(16f.)
Dies umreißt genau, worum es Wette geht. Das Buch behandelt in kritischer Weise die unheilvolle Rolle des Militärs und des kriegerischen Denkens in Deutschland von der Reichsgründung bis in die unmittelbare Gegenwart. Der Untertitel des Buches - Geschichte einer kriegerischen Kultur - weist darauf hin, dass Wette einen sehr breiten Ansatz verfolgt und den Einfluss des Militärs und des kriegerischen Denkens nicht nur in den Spitzen von Staat und Armee, sondern im Prinzip in allen seinen gesellschaftlichen Verästelungen nach verfolgen möchte. Dies geschieht nicht in Form detaillierter Primärforschung, sondern in der einer etwas eklektischen Synthese. Wette referiert die Forschung zu den unterschiedlichsten Facetten seiner Fragestellung. Dabei wendet er sich, zum Beispiel, den Kriegervereinen und dem Gesinnungs- und Folkloremilitarismus des Kaiserreichs zu und stellt dar, welchen Stellenwert beispielsweise die Rolle von Militärparaden und Soldatenspielerei im Kaiserreich hatten und ob sie als ein Kennzeichen aggressiver Gesinnung gewertet werden müssen.
Wette behandelt die Aufrüstung und den Kriegswillen des Offizierkorps ebenso wie die Unterstützung der deutschen Intellektuellen für den deutschen "Militarismus" während des Ersten Weltkriegs und schildert die Folgen der von ihm als Militärdiktatur charakterisierten 3. OHL im Ersten Weltkrieg. Er behandelt aber auch die Gegenseite, so etwa den Pazifisten und späteren Friedensnobelpreisträger Ludwig Quidde und die Kriegsgegner im Kaiserreich. Er wendet sich mehrfach in diesem Buch der Rolle der Frauen zu und fragt, ob die Frauen beispielsweise vom militaristischen Geist des Kaiserreichs erfasst worden waren. Er bejaht dieses, verweist aber auch auf die Gegenbeispiele, wie etwa den ethisch begründeten Pazifismus Bertha von Suttners oder die Anfänge feministischer Gewaltkritik im Kaiserreich. Eine interessante Episode schildert, wie eine Frau ihrem Mann bei Kriegsausbruch das Versprechen abringt, sich nicht freiwillig zu melden, dieser aber daraufhin so unglücklich und ruhelos wird, bis sie ihn schließlich ziehen lässt.
Wette, der vor Jahren mit seiner Noske-Biographie Furore machte, ist besonders gut in der Weimarer Republik zu Hause. Er behandelt unter anderem die Freikorps und auch Seeckt, die Reichswehr in der Weimarer Republik und ihre friedensbedrohenden Revisions- und Aufrüstungspläne. Den Höhepunkt all dieser Entwicklungen erreichte der deutsche Militarismus im Nationalsozialismus. Wette schildert hier die vollkommene und noch nie dagewesene Militarisierung des Landes und seiner Bewohner und das Bestreben des Regimes, den Staat in eine ausschließlich auf den Krieg abgestimmte Gewaltmaschine zu verwandeln. Zwar zieht er eine klare Trennlinie zwischen der nationalsozialistischen Radikalität und den Vorläufern im Kaiserreich, unterstreicht aber auch die Kontinuitätslinien, nämlich die Strukturen im militärischen Denken, auf denen die Nationalsozialisten aufbauen konnten. Wette beschreibt die nationalsozialistischen Untergangsphantasien in der Endphase des Krieges, dann die Entwicklung nach 1945 und endet mit der Frage, ob im Zuge der Auslandseinsätze der Bundeswehr ein neuer Militarismus zu befürchten ist. Diese wird von ihm vorsichtig, aber nicht kategorisch verneint.
Wette hält diese Themenvielfalt durch verschiedene Kerngedanken zusammen. So hebt er immer wieder auf den verderblichen Einfluss des Militärs und seines "Schwertglaubens" ab, das heißt dem Glauben, dass politischer Fortschritt nur durch Krieg zu erreichen sei; dass die Nation nicht nur ihre Fortschritte, sondern schon ihr bloßes Überleben erkämpfen müsse. Er zitiert Seeckt: "Wehrlos - ehrlos", als eines von vielen Beispielen für diese These. Doch bleibt er nicht bei den Militärs stehen, deren Sozialisation, so etwa die Kadettenanstalten, er auch skizziert. Er untersucht auch den Stellenwert militärischen Denkens bei Frauen und bei Zivilisten. Er hinterfragt mit Quidde, warum der Präsident des Reichstages, Levetzow, den Grundstein des neuen Reichstagsgebäudes in der Uniform eines Landwehrmajors der Reserve legte. Wette interessiert die Rolle der Frauen für das Funktionieren militaristischer Gesellschaftsstrukturen, und zwar im Kaiserreich und in den beiden Weltkriegen.
Zwei kleine Kritikpunkte müssen erwähnt werden. Das Resultat der deutschen Militärgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts - nämlich zwei verlorene Weltkriege - ist vernichtend genug. Da reicht es eigentlich, kühl die Resultate für sich sprechen zu lassen, was Wette meist auch tut. An manchen Stellen kann er sich der Polemik nicht enthalten, die, wie oben zitiert, im Begriff des "Militarismus" ohnehin schon automatisch enthalten ist. Zweitens ist der Text nicht frei von kleineren Fehlern und Wiederholungen, die ein aufmerksames Lektorat mühelos hätte herausfiltern können.
Wette referiert in seinem Buch die einschlägige Literatur. Dies ist eine Synthese des Bestehenden, keine neue Forschung. Das Buch ist gut und flüssig zu lesen und richtet sich weniger an den Spezialisten, dem viele der hier vorgestellten Thesen bekannt sein werden, als vielmehr an ein breiteres Publikum, dem hier ein eklektischer, aber gut verständlicher Überblick der Forschungsdiskussionen zum Thema Militarismus in Deutschland geboten wird.
Holger Afflerbach