Julia Becker: Graf Roger I. von Sizilien. Wegbereiter des normannischen Königreichs (= Bibliothek des Deutschen Historischen Instituts in Rom; Bd. 117), Tübingen: Niemeyer 2008, X + 315 S., ISBN 978-3-484-82117-0, EUR 46,00
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Neben Karl dem Großen als "Vater Europas" ist Friedrich II. vielleicht einer der wenigen Herrscher des Mittelalters, der auch einem breiteren Publikum bekannt ist. Seine Prominenz beruht auf rätselhaften Bauten, einer von manchen als ingeniös, heute eher als widersprüchlich angesehenen Persönlichkeit und vor allem auf der scheinbar zeitlosen Modernität seines Königreichs Sizilien, in dem frühere Generationen das Ideal des Beamtenstaates in seinen positiven und negativen Zügen vorweggenommen sahen. Darüber hinaus wurde Friedrichs vermeintlich tolerante Stellung zwischen oder über den Kulturen betont, während man heute gerne seine Stellung als Knotenpunkt im Fluss des Wissens hervorhebt. Bohrt man etwas tiefer, so stößt man rasch auf Begriffe wie "normannisches Erbe" oder "normannische Wurzeln", die bestimmte Züge der Herrschaft Friedrichs II. umschreiben und erklären sollen: despotisch-aufgeklärte Macht- und Prachtentfaltung im Mediterraneum, die sich auf den Erinnerungsort Palermo mit seinen Hofwerkstätten und Basaren konzentriert, auf denen der Kaisersohn in der blühenden Phantasie so Mancher umherstreunte.
Auch dank der Arbeiten der jüngeren und jüngsten Zeit konnten die häufig eigenartig schemenhaft bleibenden, normannischen Herrscher Süditaliens schärfer in den Blick genommen werden. Dies betrifft nicht nur die jüngste, konzise "Globalsicht" des Phänomens durch Alheydis Plassmann.[1] Tancred von Lecce [2], "der gute" Wilhelm [3], Roger II. [4] und Robert Guiscard [5] - sie alle fanden Berücksichtigung. Julia Becker machte es sich nun zur Aufgabe, eine der verbliebenen Lücken zu schließen und dem jüngsten der zwölf Hautevillesöhne, Graf Roger I. von Sizilien, eine Biographie zu widmen. Becker richtet ihren Blick in die Tiefe der normannischen Herrschaft: Die Eroberung Süditaliens und Siziliens und der Aufbau der weltlichen und geistlichen Herrschaftsorganisation stehen im Mittelpunkt ihrer Analyse, die somit weniger großen kulturalistischen als vielmehr verfassungsgeschichtlichen Fragestellungen folgt. Doch Becker schreibt Verfassungsgeschichte im besten Sinne des Wortes.
Die Arbeit gliedert sich in Einleitung (1-31), sieben Kapitel (32-235), Epilog, italienische Zusammenfassung, Quellen- und Literaturverzeichnis, sowie Personen- und Ortsregister. Herauszuheben ist ein ausführlicher Anhang, in dem sich Regesten der Urkunden Rogers I. und zwei Stammtafeln der Hauteville finden sowie acht Karten Süditaliens und Siziliens, die übersichtlich und gut lesbar die Ausführungen des Textes illustrieren.
Auf die Bedeutung der Urkunden Rogers I. verweist Becker bereits in ihrer Einleitung. Über die Auswertung der ebenfalls gewürdigten erzählenden Quellen hinaus betritt Becker mit der Analyse der Privilegien des ersten sizilischen Grafen Neuland. Aufgrund verschiedener Schwierigkeiten wurden diese Schriftstücke bislang kaum als eigenständiges Corpus ausgewertet. Neben der Überlieferungslage an sich (eher selten im Original, häufig in Übersetzung und/oder anderweitig modifizierter Form) fordern auch der uneinheitliche Charakter der Privilegien sowie das mitunter mangelnde Vergleichsmaterial große Sorgfalt bei der Auswertung. Dennoch lohnt - so zeigt das Werk Beckers - die Arbeit, ergeben sich doch durch die Urkunden, allen Unsicherheiten zum Trotz, tiefe Einblicke in die normannische Herrschaftspraxis.
Um diese jedoch adäquat bewerten zu können schildert Becker zunächst die "Anfänge der Eroberung" (Kapitel I (32-47)) Süditaliens und führt dabei die Linien auf das Verhältnis von Roger I. zu seinem älteren Bruder Robert Guiscard eng. Hierauf baut Kapitel II (48-74) auf, das die gemeinsame Eroberung Siziliens und die Politik Rogers I. gegenüber seiner streitbaren Verwandtschaft nach dem Tod Robert Guiscards analysiert. Klarer als zuvor wird bereits hier, dass Roger I. jene Einfallstraßen anlegte, die sein gleichnamiger Sohn auf dem Weg zum Königtum beschritt. Dies zeigt sich ebenso bei der Analyse von Rogers "weltlicher Innenpolitik", die in Kapitel III (75-129) ihren Kristallisationspunkt in den "lehnsähnliche[n] Elemente[n] als Instrumente des Herrschaftsaufbaus und der Herrschaftssicherung" (77) findet. Hier erlaubt nun die Auswertung der Urkunden Einblicke in die Besitzverteilung, Verwaltungsorganisation, die Rechte und Pflichten. Aufgrund der bereits erwähnten schwierigen Überlieferungslage legt sich zwar stets ein schwerer Schleier zeitlicher Schichten über die frühnormannische Epoche, den Becker jedoch stets umsichtig zu lichten weiß. Die Auswertung der Privilegien Rogers ermöglicht Becker auch, mit dem klassischen zweiten Pfund der Urkundenforschung - der Analyse der herrscherlichen Entourage - zu wuchern. Auf dem Fundament der bisherigen Arbeiten aufbauend erlaubt das Buch Beckers so, die häufig im Theoretisch-Nebulösen der Forschung bleibenden, inter- bzw. transkulturellen Prozesse gleichsam in loco nachvollziehbar zu machen.
Behandelt das folgende Kapitel IV (130-158) die Beziehungen Rogers zum Papsttum seiner Zeit - einschließlich der Frage seiner apostolischen Legation und seiner Nichtbeteiligung am ersten Kreuzzug - so zeichnet Becker in Kapitel V die "Kirchen- und Klosterpolitik Rogers I." (159-217) scharf. Erneut bewährt sich die Auswertung der Urkunden: Bei aller gebotenen und von Becker stets in Rechnung gestellten Vorsicht lassen sich so klarer als jemals zuvor der historische Befund mit den vielleicht eben doch vorhandenen Leitlinien der gräflichen Politik in Verbindung setzen.
Kapitel VI (218-235) deutet bereits in seiner Titelkombination "Herrschaftsrepräsentation und auswärtige Beziehungen" auf eine im Vergleich zu späteren Generationen eher geringe, von Becker vorgefundene Materialdichte hin. Dennoch ist dieses Kapitel wichtig, verdeutlicht sich doch einmal mehr die bedeutende vorprägende Rolle Rogers I. gegenüber seinem gleichnamigen Erben.
Ein kurzes Fazit: Das Buch Julia Beckers zeichnet sich durch den bewussten Verzicht auf die entgrenzte Breite der Vergleichsmöglichkeiten und durch die Konzentration auf den eigentlichen Gegenstand aus, was ihrem Werk eine angenehm stringente Tiefe verleiht. Künftige Arbeiten zum Mittelmeerraum und/oder den Normannen werden es mit großem Gewinn heranzuziehen wissen.
Anmerkungen:
[1] Alheydis Plassmann: Die Normannen. Erobern - Herrschen - Integrieren (Kohlhammer-Urban-Taschenbücher 616), Stuttgart 2008.
[2] Christoph Reisinger: Tankred von Lecce. Normannischer König von Sizilien 1190 - 1194 (Kölner historische Abhandlungen 38), Köln u.a. 1992.
[3] Annkristin Schlichte: Der "gute" König. Wilhelm II. von Sizilien (1166 - 1189) (Bibliothek des Deutschen Historischen Instituts in Rom 110), Tübingen 2005.
[4] Hubert Houben: Roger II. von Sizilien. Herrscher zwischen Orient und Okzident (Gestalten des Mittelalters und der Renaissance), Darmstadt 1997.
[5] Richard Bünemann: Robert Guiskard 1015 - 1085. Ein Normanne erobert Süditalien, Köln - Weimar - Wien 1997.
Stefan Burkhardt