Holger Afflerbach / David Stevenson (eds.): An Improbable War? The Outbreak of World War I and European Political Culture before 1914, New York / Oxford: Berghahn Books 2007, XIV + 365 S., ISBN 978-1-84545-275-9, GBP 45,00
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J. R. McNeill: Mosquito Empires. Ecology and War in the Greater Caribbean, 1620-1914, Cambridge: Cambridge University Press 2010
Celia Applegate: Bach in Berlin. Nation and Culture in Mendelssohn's Revival of the St. Matthew Passion, Ithaca / London: Cornell University Press 2005
Helmut Walser Smith: The Continuities of German History. Nation, Religion, and Race across the Long Nineteenth Century, Cambridge: Cambridge University Press 2008
David Stevenson: 1914-1918. Der Erste Weltkrieg. Aus dem Englischen von Harald Ehrhardt und Ursula Vones-Liebenstein, Düsseldorf / Zürich: Artemis & Winkler 2006
Holger Afflerbach: Auf Messers Schneide. Wie das Deutsche Reich den Ersten Weltkrieg verlor, München: C.H.Beck 2018
Holger Afflerbach / Ulrich Lappenküper: 1918 - das Ende des Bismarck-Reiches?, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2021
Die Ursachen des Ersten Weltkriegs sind seit Kriegsausbruch intensiv erforscht worden - bekanntlich mit ganz unterschiedlichen Antworten. Dennoch scheinen sich zwei Hypothesen besonderer Beliebtheit zu erfreuen: dass der Krieg durch Teile der politischen und militärischen Eliten des Deutschen (oder Habsburger) Reichs langfristig geplant und bewusst herbeigeführt wurde; oder dass der Krieg eine unvermeidliche Folge der Rüstungspolitik der Großmächte und der zunehmenden Reibungen zwischen starren Allianzen gewesen sei, so dass alle großen Mächte durch strukturelle Zwänge in ihn hineingedrängt wurden. Beiden Interpretationen ist die Annahme gemeinsam, dass der Erste Weltkrieg Ursachen und nicht nur Anlässe hatte, dass er sich also konsequent aus einer längeren Vorgeschichte ableiten lässt und nicht nur aus der Folge mehr oder weniger hektischer Maßnahmen und Gegenmaßnahmen nach dem gänzlich überraschenden Attentat von Sarajewo, kurzum: dass in den Jahrzehnten um 1914 ein grosser Krieg mit all seinen Folgen deutlich wahrscheinlicher war als ein langandauernder Friede und ein goldenes Zeitalter globaler europäischer Vorherrschaft.
Der vorliegende Sammelband stellt als einer der ersten die Frage, ob der Erste Weltkrieg vielleicht gar nicht strukturell determiniert oder gar überdeterminiert, sondern ganz und gar unwahrscheinlich war. War es unter Umständen gerade deshalb so schwierig, etwas gegen seinen Beginn zu unternehmen oder ihn zu einem schnellen Ende zu bringen?
Es ist nicht einfach, gegen die versammelte Plausibilität der vorhandenen Literatur zu argumentieren, und ganz so radikal, wie der Titel andeutet, geht der Band denn auch nicht vor. Die auf einer Tagung in Atlanta 2004 erstmals vorgestellten Beiträge, die bereits 2007 gedruckt wurden, aber leider erst 2009 bei den sehepunkten eingetroffen sind, halten nicht alle den Krieg für unwahrscheinlich - manche stellen eher die Schuldfrage mit überraschendem Ergebnis neu, andere stützen eher die These von einem unvermeidlichen Krieg. Zusammen ergeben sie eine der anregendsten Publikationen, die in den letzten Jahren zum Thema erschienen sind, und es ist schade, dass der hohe Preis der Ausgabe ihrer Verbreitung wie ihrer Nutzung zu Studienzwecken bislang enge Grenzen setzt.
Nach einem sehr persönlich gehaltenen Vorwort von Jimmy Carter und einer differenzierten Einleitung der Herausgeber gliedert sich der Band in fünf große Abschnitte. Teil eins, der dem internationalen Staatensystem vor 1914 gewidmet ist, diskutiert die systemische und individuelle Verantwortung der Politik für den Kriegsausbruch. Hier kommen eher gegenüber der "Improbable War"-These skeptische Stimmen zu Wort. Paul W. Schroeder argumentiert, in den Jahren vor 1914 sei die Habsburgermonarchie das Hauptopfer einer Politik gewesen, die sich von den Prinzipien des post-napoleonischen europäischen Konzerts abgewandt habe und Missachtung des Konferenz- und Konsensprinzips durch territoriale Expansion belohnte. Insofern war Krieg 1914 für die Habsburgermonarchie, Hauptopfer dieser Entwicklung, eine fast alternativlos gewordene Entscheidung. Damit diese These auch nur im Ansatz überzeugt, muss man freilich an die Existenz eines europäischen Konzerts glauben, dessen Realität zunehmend in Frage gestellt wird. Immerhin macht Matthias Schulz plausibel, dass es Normen internationaler Politik gab, die auch 1914 noch hinreichend tragfähig gewesen wären, um der Habsburgermonarchie etwa die Einberufung einer internationalen Konferenz und/oder einer Kontrollinstanz für Serbien zu erlauben. Samuel Williamson stimmt Matthias Schulz darin zu, dass die Entscheidung für den Krieg in Wien fiel - da solche Möglichkeiten der Konflikteinhegung nicht genutzt wurden. Allerdings sei dies nicht Ausdruck einer langfristigen Tendenz gewesen, sondern eine der Folgen des allgemein als nicht vorhersehbares Ereignis klassifizierten Attentats von Sarajewo, das Ferdinand als moderate Stimme am Wiener Hof ausschaltete. Es ist wenig überraschend, dass John C. G. Röhl auch hier seine These vertritt, Wilhelm II. habe als struktureller Scharfmacher fungiert, der zielstrebig auf einen europäischen Krieg hinarbeitete und erst unmittelbar vor Beginn der Kampfhandlungen kalte Füße bekam, ohne den Mut zu haben, den Krieg zu vermeiden.
Teil zwei, der sich mit den militärischen Strukturen beschäftigt, bestätigt eher die These von der Unwahrscheinlichkeit des Krieges. Zwar war der Versuch einer Rüstungsbeschränkung, wie Jost Dülffer deutlich macht, vor dem Krieg kaum erfolgreich. Das bedeutete aber keineswegs - so Michael Epkenhans und David Stevenson - dass die Rüstungswettläufe zu Wasser und zu Lande zwangsläufig in einen Krieg münden mussten. Allerdings war den beteiligten Mächten deutlich, dass sich manche Positionen im Laufe der Zeit verbesserten, andere dagegen verschlechterten. In die erste Gruppe gehörten Frankreich und Russland, in die letzte das Deutsche Reich und die Habsburgermonarchie. Das war allerdings nur ein Argument für einen Präventivkrieg, solange man den Krieg nicht überhaupt für unmöglich, nicht zu gewinnen und in seinen Folgen nicht zu beherrschen hielt - Ansichten, die (wie Günther Kronenbitter diskutiert) in den europäischen Generalstäben verbreitet waren.
War der Krieg nicht zu verhindern, weil sein Nahen nicht zu erkennen war? Dieser These geht der dritte Teil nach, der sich subjektiven Wahrnehmungen und allgemeinen Zeitströmungen widmet. Zunächst macht Holger Afflerbach klar, dass kaum jemand ernsthaft mit Krieg rechnete. Dagegen sprach nicht zuletzt, dass es ja bislang immer so gewesen war, dass Krisen nicht zu Kriegen geführt hatten, Entspannung das eigentliche Motto der Zeit war, nicht Anspannung - so Friedrich Kießling. Auch die Kriegsbegeisterung, die sich im August 1914 angeblich entlud, war weder allgemein, noch notwendigerweise Folge einer aufgeheizten militaristischen Stimmung; das zeigen Roger Chickerings Untersuchung der Kriegsbegeisterung und Joshua A. Samborns Studie zur russischen Erziehung zu Krieg und Frieden.
Im vierten Teil werden kulturelle Erklärungen des Kriegs einer Prüfung unterzogen, wobei die Antworten hier notwendigerweise in dem Maße unschärfer ausfallen, in dem sich die Fragestellungen vom eigentlichen Kern der militärisch-politischen Entscheidungsfindung fortbewegen. Ute Frevert meint, die spezifische Grammatik männlicher Ehrvorstellungen habe in der Julikrise von 1914 eine friedliche Lösung unwahrscheinlich gemacht - dem steht freilich ihre Erkenntnis gegenüber, dass die meisten "Ehrenmänner" im Privatleben Wege fanden, ein Duell nicht auszufechten oder dessen Gefahrenpotential zu begrenzen, also doch vom Abgrund zurückzutreten ohne ihrer Ehre verlustig zu gehen. Dass es eine internationale Solidarität der protestantischen Kirche wie der Musik- und Kunstfreunde gegeben hat, wie Hartmut Lehmann und Jessica C. E. Gienow-Hecht in brillanten Aufsätzen zeigen, ist richtig (ähnliches hätte sich auch für Wirtschafts- und Finanzwelt oder den normalen Tourismus belegen lassen), steht aber insofern nicht im Zentrum des Problems, da bislang kaum davon ausgegangen wurde, dass kulturelle oder religiöse Bewegungen alleine 1914 stark genug gewesen wären, einen Krieg aufzuhalten. Offenbar sind die Herausgeber auch gegenüber dem friedenserhaltenden Potential der Arbeiterbewegung skeptisch gewesen, denn zu diesem Bereich internationaler Verflechtungen findet sich kein Beitrag.
Der letzte Teil des Bandes fragt danach, wie wahrscheinlich ein Krieg in Europa 1914 aus der Außenperspektive war. Mustafa Aksakal zum Osmanischen Reich, Frederick R. Dickinson zu Japan und Fraser J. Harbutt zu den USA gelangen zu jeweils unterschiedlichen Antworten. Aksakal sieht es als erwiesen an, dass die Osmanischen Eliten einen regionalen Krieg für sowohl wahrscheinlich als auch unvermeidbar hielten, 1914 aber weder mit einem Weltkrieg rechneten noch den Krieg, in den sie nach kurzem Zögern eintraten, um die deutsche Allianz nicht zu verlieren, als solchen wahrnahmen. In Japan hatte die Regierung weder den Krieg noch dessen Intensität erwartet, ergriff aber gerne die Gelegenheit, mit relativ geringem Einsatz eigene militärisch-politische Ziele durchzusetzen. Auch in den USA dominierten zunächst Überraschung und Schock, bevor der lange Entscheidungsprozess begann, an dessen Ende die USA in den Krieg eintraten.
An dieser Zusammenfassung wird - hoffentlich - zweierlei deutlich. Erstens: Es ist nicht ganz leicht, die These eines unwahrscheinlichen Krieges zu belegen. Offenbar stand dem Glauben an einen friedlichen Sommer nach einer überwundenen Krise auch eine Krisenwahrnehmung gegenüber. Es geht insofern weiterhin darum, die Akzente plausibel zu verteilen. Zweitens: Das ist nur möglich, wenn man sich von liebgewonnenen Teleologien und Vorurteilen verabschiedet. Gerade weil er kein einseitig zusammengestelltes Thesenbuch ist, unternimmt es der vorliegende Band in ganz herausragender Weise, allzu gut eingespielte Erklärungen in Frage zu stellen und das Feld der Ursachenforschung zum Ersten Weltkrieg neu zu öffnen. Es bleibt zu hoffen, dass dies von einer breiten wissenschaftlichen wie außerwissenschaftlichen Öffentlichkeit wahrgenommen wird.
Andreas Fahrmeir