David D. Phillips: Avengers of Blood. Homicide in Athenian Law and Custom from Draco to Demosthenes (= Historia. Einzelschriften; Heft 202), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2008, 279 S., ISBN 978-3-515-09123-7, EUR 59,00
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In den Rechtsverfahren bei Tötungsdelikten lassen sich ausgehend von Drakons Gesetzgebung im späten 7. Jahrhundert v. Chr. bis zur Mitte des 4. Jahrhunderts markante Veränderungen feststellen. Es ist insgesamt gesehen eine Erfolgsgeschichte des Rechts, weil es früh gelang, die Blutrache zurückzudrängen und formalisierte Rechtsverfahren an ihre Stelle treten zu lassen. In klassischer Zeit lebte die Blutrache nur im Mythos und in der Tragödie fort; wer den gewaltsamen Tod eines Angehörigen rächen wollte, dem blieb nur die Möglichkeit, beim zuständigen Magistraten eine Klage einzureichen. Gestattet war die eigenhändige Tötung oder ein Ergreifen und Abführen zu den Elfmännern nur dann, wenn ein Täter in flagranti ertappt worden war.
Phillips behandelt in sieben Kapiteln die bei Tötungsdelikten in Athen anzuwendenden Rechtsverfahren, die gesetzlichen Vorgaben und deren Veränderungen und analysiert einige der Gerichtsreden, die in Verfahren von Tötungsdelikten gehalten oder in denen solche Fälle genannt wurden (die 9. Rede des Isaios, die 47. Rede des demosthenischen Corpus, die 12. und 13. Rede des Lysias; darüber hinaus Platons Euthyphron).
In der Einleitung formuliert Phillips sein Ziel, die Interdependenz des sich verändernden Tötungsrechts und der sozialen Institution der Feindschaft (échthra) zu untersuchen, die durch eine Ethik privater Rache geprägt wird. Durch eine Auswertung einschlägiger Passagen aus attischen Gerichtsreden arbeitet Phillips Charakteristika eines Diskurses über "Feindschaft" heraus. Feindschaft kann eskalieren, von Kränkungen und Beleidigungen zu gewalttätigen Auseinandersetzungen bis hin zu Prozessen oder gar Mord. Feindschaft als Grund eines Gerichtsverfahrens ist ein glaubhaftes und legitimes Motiv. Sie kann durch Aussöhnung beendet oder durch einen Prozess auf eine höhere Stufe in der Eskalation geführt werden. Phillips nennt vier Kennzeichen, die den antiken Diskurs über Feindschaften charakterisieren: um als legitimes Motiv vor Gericht anerkannt zu werden, muss Feindschaft durch offensichtlich feindliche Akte belegbar sein. Feindliche Beziehungen sind zweitens variabel, können zu gewalttätigen Aktionen bis hin zu Mord führen, aber auch in ein geregeltes Rechtsverfahren münden, und sind drittens reziprok, da häufig Personen derselben sozialen Schicht involviert sind, wobei die Gewalt schrittweise eskaliert. Durch die Vernetzung der betroffenen Personen werden Feindschaften auf phίloi, auf enge Verwandte und Freunde, übertragen. Gerade bei Tötungsdelikten sind Freunde und Verwandte geradezu verpflichtet, Rache zu üben, auch wenn dies in klassischer Zeit über Rechtsverfahren zu geschehen hatte. "Transitivity" und Erblichkeit sind also ebenfalls Kennzeichen persönlicher Feindschaften im antiken Griechenland.
In den folgenden Kapiteln, sofern sie einzelnen Gerichtsreden gewidmet sind, wird der Diskurs über Feindschaften analysiert, wird untersucht, welche Rolle er für die Strategie des Sprechers spielt. Insbesondere die Kapitel 6 und 7, die der 12. und 13. Rede des Lysias gewidmet sind, nehmen sich ausführlich der Argumentationsweise der Kläger an. Der Kläger sucht die Solidarität mit dem Volk, wenn er ausführt, dass Eratosthenes als Mitglied der 30 Tyrannen und Agoratos als Denunziant in Diensten der Oligarchen sowohl als Feinde des Volkes als auch als persönliche Feinde anzusehen seien. Die "Dreißig" und die sie unterstützenden Anhänger der Oligarchie werden zu echthroί des Volkes stilisiert. Diese Kapitel stellen zwar ausführliche Analysen der Argumentationsstrategien dar, bieten aber insgesamt kaum neue Erkenntnisse. Es stellt sich auch die Frage, ob die genannten Charakteristika von Feindschaft spezifisch sind für die griechische Gesellschaft. Die Variabilität, die mögliche Eskalation und die Reziprozität gelten sicherlich für Feindschaften im Allgemeinen und sind kaum als spezifische Kennzeichen der griechischen Gesellschaft zu werten.
In vielerlei Hinsicht für problematisch halte ich Phillips Positionen zu den die Tötungsdelikte betreffenden Rechtsverfahren. So geht Phillips davon aus, dass Drakons Gesetzgebung nicht durch eine horizontale stásis (also Konflikte zwischen Adelsfamilien), sondern eine vertikale stásis (Konflikte zwischen Adel und Volk) bedingt ist; daher könne auch eine unmittelbare Beziehung zum Tyrannisversuch Kylons ausgeschlossen werden. Drakon habe einen umfassenden Gesetzescode erstellt, von dem Solon nur das Tötungsrecht habe bestehen lassen. Mit seinem Gesetz hat er eine Privatklage wegen Tötung (dίke phónou) eingeführt und damit die Blutrache unterbunden. Indem er das im Gesetz Drakons als Sanktion aufgeführte pheúgein nicht im Sinne von "go into exile", sondern von "he shall stand trial" versteht, konstruiert er bereits für das ausgehende 7. Jahrhundert einen Gerichtszwang. Die Strafe sei nicht das Exil, sondern die Hinrichtung gewesen, die damit kontinuierlich bis in klassische Zeit gegolten habe.
Ich halte diese Rekonstruktion des drakontischen Rechts in allen Punkten für unzutreffend. Eine in sich schlüssigere Interpretation ergibt sich, wenn strikter zwischen Blutracheverfahren und regulären Rechtsverfahren unterschieden wird. Die Blutrache wurde von Drakon in seinem Gesetz geregelt, reguläre Rechtsverfahren, darunter auch die díke phónou, gehen auf Solons Gesetzgebung zurück. Drakon hat durchaus nicht die Blutrache grundsätzlich abgeschafft, sondern sie bei absichtlicher Tötung bestehen lassen. Selbst bei unabsichtlicher Tötung sollte die Verweisung aus Attika als Sanktion Bestand haben - genau dies bekräftigt der erste Satz des drakontischen Gesetzes. Abgemildert wurde die Strafe des Exils bei unabsichtlicher Tötung nur durch die erstmals verbindlich geregelte Form der Aussöhnung, die das Kernstück des Gesetzes ausmacht. Nur wenn man die Zuflucht in ein Asylheiligtum bei unabsichtlicher, gerechtfertigter oder versehentlicher Tötung mit einbezieht, wird erklärlich, warum Athen fünf Gerichtshöfe für verschiedene Tötungsdelikte kannte. Diese Diskussion bleibt bei Phillips völlig ausgespart. Die von Phillips genannten Quellenstellen für weitere drakontische Gesetze können keinen umfassenden Gesetzescode belegen, da sie auf Fälle der gerechtfertigten Tötung z.B. des bei der Tat ergriffenen Ehebrechers oder des nächtlichen Diebs zu beziehen sind und daher als Bestandteil des drakontischen Gesetzes über die Tötung angesehen werden können. Viele der von Phillips formulierten Positionen stehen auch deswegen auf schwachen Füßen, weil er wesentliche Beiträge der nichtenglischen Forschung nicht einbezogen hat, so die einschlägigen Arbeiten von Eva Cantarella oder von Ernst Heitsch zur aίdesis.
Während Phillips zeigen kann, dass es nicht nur einen Freundschafts-, sondern auch einen Diskurs über die Feindschaft gibt, der von ethischen Prinzipien und Argumentationsstrategien gesteuert ist, überzeugen seine Positionen zu den attischen Rechtsverfahren bei Tötungsdelikten nicht.
Winfried Schmitz