Sigrid Rachoinig: 'Wir tun kund und lassen dich wissen'. Briefe, Urkunden und Akten als spätmittelalterliche Grundformen schriftlicher Kommunikation, dargestellt anhand der Lebenszeugnisse Oswalds von Wolkenstein (= Mediävistik zwischen Forschung, Lehre und Öffentlichkeit; Bd. 2), Frankfurt a.M. [u.a.]: Peter Lang 2009, 320 S., ISBN 978-3-631-58468-2, 51,50
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Karl-Heinz Spieß (Hg.): Medien der Kommunikation im Mittelalter, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2003
Historiker und Sprachwissenschaftler wissen überraschend wenig voneinander. Der "linguistic turn" der Geschichtswissenschaft, Ergebnis der Rezeption der Gedanken, die sich vor allem französische Philosophen ausgehend von der linguistischen Semiotik de Saussures zur sprachlichen Konstruktion von Realität gemacht haben, hat zwar zu einer intensiven und andauernden Debatte innerhalb der Geschichtswissenschaft geführt, kaum aber dazu, dass sich Historiker intensiver mit linguistischen Arbeitstechniken und Beschreibungsmodellen auseinandergesetzt hätten. Ernsthafter Interdisziplinarität bieten sich hier, wie überall, hohe Hürden: Auch die Sprachwissenschaft hat schließlich ihre "turns" und ihre immer stärkere Spezialisierung in Unterdisziplinen, von denen nur ganz wenige sich mit historischem Material befassen. Zur textsortentypologischen Untersuchung anhand der germanistischen Quellensammlung "Lebenszeugnisse Oswalds von Wolkenstein", die Sigrid Rachoinig vorgelegt hat, ist deshalb als Erstes zu sagen, dass es ausgesprochen anmaßend wäre, in einer geschichtswissenschaftlichen Rezension die Qualität und Originalität einer sprachwissenschaftlichen Studie bewerten zu wollen. Doch Neugier ist immer erlaubt. Vor allem vier Fragen lassen sich an eine solche Arbeit stellen: Ist die Kategorie, die die Sprachwissenschaftler "Textsorte" nennen, nutzbar zu machen für eine quellenkundliche Typologisierung, die die Anforderungen der Historiker befriedigt? Zum Zweiten: Können formale Methoden der Sprachbeschreibung historische Lesetechniken bereichern? Die historische Briefforschung leidet , zum Dritten, seit Georg Steinhausen an der falschen Grundannahme, Formelhaftigkeit bedinge inhaltliche Belanglosigkeit, die eigentlich historisch verwertbare Aussage eines Briefes müsse also aus dem umgebenden "Formelkram" gleichsam herauspräpariert werden. Dabei wird bis heute verkannt, wie wichtig gerade die immer wiederkehrenden Textbausteine sind, weil sie kommunikative Gegenseitigkeit herstellen und damit geteilte Wertvorstellungen transportieren. Kann eine rein formale Sprachanalyse, die nach dem Erfolg und der Typologisierbarkeit von "Sprechakten"/"Sprachakten" fragt, das Problem der sprachlichen Konventionalität besser in den Griff bekommen? Bietet, schließlich, der textlinguistische Ansatz ein verfeinertes Instrumentarium, um das Fortwirken der Mündlichkeit innerhalb des Geschriebenen mit den analytischen Mitteln der linguistischen Pragmatik dort aufzuspüren, wo es den Historikern leicht entgeht?
Nach einer anschaulichen biografischen Skizze Oswalds (13-34) ordnet Rachoinig im ersten Teil der Arbeit das von ihr aus den "Lebenszeugnissen " selektierte Textkorpus in ein formales Kommunikationsmodell mit den Hauptkomponenten Sender, Empfänger und Kommunikationsziel. Bereits diese Modellbildung wird mit sprachlichen Detailanalysen zur Benennung des Empfängers und des Kommunikationsaktes selbst in den Quellen unterfüttert.
Der zweite Teil erläutert und rechtfertigt die Gliederung des Textmaterials als Grundgerüst der Typologisierung. Auf der ersten Unterscheidungsebene werden die Textsorten festgelegt. Texte der "finalen" Kommunikationssituation dokumentieren einen abgeschlossenen Informationsaustausch, den gleichen Wissensstand der Kommunikationspartner und eine gemeinsame abschließende Aussage, während bei der "offenen" Kommunikationssituation der Informationsaustausch noch andauert und die Beteiligten noch die Möglichkeit haben, durch ihre Reaktion den weiteren Verlauf der Kommunikation zu beeinflussen. Die so herausgearbeiteten Textsorten "Urkunde" und "Brief" leisten nichts, was über die überkommene diplomatische Trennung von Urkunden als Niederschlag von Rechtshandlungen und Briefen als nicht rechtserheblicher Informationsaustausch hinausginge. "Akte" als dritte Textsorte ist erheblich problematischer, folgt Rachoinig doch gerade nicht dem hilfswissenschaftlichen Aktenbegriff, der Akten als Zusammenstellungen von durch die Aufgabenerledigung der aktenführenden Stelle aufeinander bezogenen Einzelschriftstücken ansieht, sondern fasst darunter mit der "Beurkundung", der besiegelten Zeugenaussage und den "Protokollen" Textsorten, die Merkmale sowohl offener wie finaler Kommunikationssituationen tragen können.
Den Hauptteil der Arbeit macht die Typologie der Textsortenvarianten aus, die hierarchisch unterhalb der Textsortenebene angesiedelt ist. Die von Rachoinig vorgeschlagene Typologie muss sich dem gleichen Problem stellen wie die historische Quellenkunde: Dem richtigen Verhältnis von Differenzierung und abstrahierender Zusammenfassung. Im Bereich der Briefe sind manche der vorgeschlagenen Varianten in ihrer Allgemeinheit schlicht banal ("Brief mit bestimmten Informationen" (113) oder "Brief mit Bitten und Anliegen" (114). Im Bereich der Urkunden dagegen wird so genau typisiert, dass man sich fragen muss, ob nicht jedes einzelne Rechtsgeschäft auch eine urkundliche Textsortenvariante begründen kann. Im Ergebnis liegt hier aber ein detaillierter Katalog von Brief- und Urkundentypen mit ihren jeweiligen sprachlichen Merkmalen vor, der auch für die historische Analyse ausgesprochen hilfreich werden könnte.
Der vierte Teil der Arbeit schließlich fasst zwei ganz typische Fragen der Schriftlichkeitsgeschichte in sprachwissenschaftliche Kategorien: Zum einen wird nach der Normerfüllung versus der Individualität bei der Textproduktion gefragt. Das Ergebnis ist so eindeutig wie ernüchternd: Einen "Individualstil" Oswalds gibt es weder in Briefen noch in Urkunden. Zum zweiten wird der "Erfolg" von schriftlicher Kommunikation zu ermessen versucht, was jedoch in den Beschränkungen des Quellencorpus steckenbleibt. Die Überlieferung ist einfach nicht dicht genug, um jenseits der banalen Tatsache, dass eine briefliche Bitte im einen Fall abgeschlagen, im anderen Fall gewährt wird, in gleichsam dichter historischer Beschreibung Kommunikationsstrategien und deren Erfolgschancen herauszuarbeiten.
Dass Rachoinig neuere Ansätze und Fragestellungen der historischen Briefforschung zum Spätmittelalter (etwa von Gerhard Fouquet, Jürgen Herold, Cordula Nolte und Jörg Rogge), der Schriftlichkeitsgeschichte der Münsteraner Schule mit ihrer Betonung der pragmatischen Schriftlichkeit, schließlich der Schriftlichkeitsgeschichte Roger Sabloniers und seiner Schüler mit der Betonung der ständigen Funktionsveränderung von Geschriebenem nicht rezipiert, kann man der Autorin fairerweise nicht vorwerfen. Der Historiker, der auf sprachwissenschaftlichem Terrain sicher vergleichbare Ungenauigkeiten produzieren würde, sollte sich dessen aber bewusst sein und vielleicht die Augen für solche Deutungsmöglichkeiten der Quellen offen halten, die sich hier erst gar nicht aufgetan haben. Kritischer ist, dass es der Studie an einem Sensorium für die Spuren und Situationen der Mündlichkeit in den geschriebenen Quellen fehlt, und es ist symptomatisch, dass ausgerechnet der dafür grundlegende Beitrag der Sprachwissenschaftler Peter Koch und Wulf Österreicher [1] im Literaturverzeichnis fehlt. Dabei führen Urkundenformeln wie "wir verjechen und tun kund..." oder "allen, die diesen Brief sehen oder hören lesen..." auf Musterbeispiele komplexer performativer Sprachhandlungen: Es wird etwas getan, indem etwas gesagt wird, und es wird etwas geschrieben, damit es wieder gehört werden kann. Die stellenweise spürbare Ratlosigkeit bei der Deutung der eigenen Befunde, nicht zuletzt, dass "aus den vorgestellten Beispielen [...] im spätmittelalterlichen Schrifttum (sic) ersichtlich [wird], dass die Frage nach dem Gelingen oder Misslingen des perlokutionären Aktes schwer zu beantworten ist" (237), dürfte aus der Sicht des Historikers die Skepsis gegenüber den methodischen Zugriffen der Linguistik nicht mindern - leider. Um so mehr sind Sigrid Rachoinigs ambitionierter Studie viele Leser außerhalb ihres engeren Forschungsfeldes zu wünschen.
Anmerkung:
[1] Peter Koch / Wulf Oesterreicher: Sprache der Nähe - Sprache der Distanz. Mündlichkeit und Schriftlichkeit im Spannungsfeld von Sprachtheorie und Sprachgebrauch, in: Romanistisches Jahrbuch 36 (1985), 15-43.
Julian Holzapfl