Matthias Schulz: Normen und Praxis. Das Europäische Konzert der Großmächte als Sicherheitsrat, 1815-1860 (= Studien zur Internationalen Geschichte; Bd. 21), München: Oldenbourg 2009, XII + 726 S., ISBN 978-3-486-58788-3, EUR 79,80
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Seit einigen Jahren kommt Bewegung in die lange geschmähte Geschichte der internationalen Beziehungen. Zuletzt findet sie auch für die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts wieder verstärkt das Interesse der Historiker im deutschsprachigen Raum. Das belegen beispielsweise ein an der Universität Klagenfurt angesiedeltes Projekt zur Edition der Akten der Mächtekongresse in den Jahren nach 1814/15 oder ein jüngst erschienener Sammelband zum Europäischen Mächtekonzert [1] eindrucksvoll. Die Studie von Matthias Schulz - 2001/2002 an der Universität Rostock als Habilitationsschrift angenommen - ist eine der ersten Monografien, die diesem neuen Trend geschuldet ist.
Der Autor hat sich Großes vorgenommen: Er will nicht weniger, so suggeriert bereits der Titel, als "Normen und Praxis" des Europäischen Konzerts der Großmächte in den Jahren 1815 bis 1860 darstellen. Um die sich daraus ergebende Fülle an Stoff bewältigen zu können, ist Schulz auf eine interessante Lösung verfallen: In Anlehnung an den unter anderem von Jost Dülffer herausgegebenen Band "Vermiedene Kriege" [2] konzentriert er sich in Teilen seiner Studie auf internationale Krisen jener Epoche. So gelingt ihm ein schlüssiger und gewinnbringender Zugang. Strukturgebend wirkt zudem Schulzens Leitbegriff "Friedenskultur", unter dem er "den gesamten Bereich der Deutungszuweisungen, Praktiken, Interaktionsformen und Einrichtungen, die eine friedliche Gestaltung der internationalen Beziehungen ermöglichen" (5) fasst. Er steht für die zentrale Rolle, die der Autor dem Wandel normativer Vorstellungen im Verlauf des Untersuchungszeitraums und deren Relevanz für das Handeln der Akteure zumisst. Doch noch etwas zieht sich wie ein roter Faden durch die Studie: die Auseinandersetzung mit den Thesen Paul W. Schroeders über einen grundlegenden Wandel des politischen Denkens um 1815. [3] Auch wenn Schulz zu einer eigenen, insgesamt differenzierter erscheinenden Sichtweise kommt und überhaupt eine breitere Rezeption der Arbeiten Schroeders im deutschsprachigen Raum zweifelsohne wünschenswert ist, entsteht doch so manches Mal der Eindruck, dass die Konzentration auf den amerikanischen Historiker etwas zu sehr in den Vordergrund rückt und Schulz seine Thesen vor allem in einer Abarbeitung an Schroeder formuliert.
Die Studie ist in drei Hauptkapitel unterteilt, zwei chronologische und ein systematisches. Der erste Teil beschäftigt sich mit der Phase der Formierung des Europäischen Konzerts in den Jahren 1813 bis 1818 und seinem Agieren bis zum Vorabend der Revolutionen von 1848. Hier findet der Leser vor allem eine Bestandsaufnahme, für welche die Kongressdiplomatie jener Jahre beschrieben und die vorhandene Forschungsliteratur zu diesem Thema in bis dato nicht da gewesener Weise zusammengetragen und kommentiert wird. Es gelingt Schulz vortrefflich, die Entwicklung des Konzerts in diesen Jahren aufzuzeigen und seine Position zu vermitteln, die den Konzert-Begriff gegenüber dem der Pentarchie favorisiert. Hinsichtlich der handlungsleitenden Motive differenziert Schulz zwischen der Phase von 1818 bis 1823 mit ihrer antirevolutionären Ausrichtung und den nachfolgenden Jahren, in denen schlicht die Bewahrung des Gleichgewichts, aber auch zunehmend die Unabhängigkeit der Staaten im "modernen, britischen Verständnis" (144) im Mittelpunkt gestanden habe.
Für den zweiten Hauptteil und die Jahre 1848 bis 1860 bleibt Schulz zwar grundsätzlich bei seiner chronologischen Vorgehensweise, konzentriert seine Ausführungen jedoch stärker als zuvor auf einzelne Krisen. Besonders am Herzen liegt dem Autor der Krimkrieg, ein Thema, das "in der Kontroverse über die Lebensdauer des Europäischen Konzerts ein zentrales Deutungsproblem" (296) darstellt. Nicht als dessen Zerstörung, sondern als "eine Erweiterung des europäischen Rechtsraumes und der multilateral regulierten Staatenordnung" (349), die auch weiterhin in erster Linie im Dienste des Gleichgewichts und der Unabhängigkeit von Staaten stünde, interpretiert Schulz überzeugend den Konflikt von 1853. Dabei negiert er die wachsenden Spannungen im Staatensystem aufgrund des Nationalitätenprinzips als neuer normativer Vorstellung nicht und betont auch die Dynamik, die aufgrund des Endes der Heiligen Allianz der Ostmächte entstanden war. Erst im Prozess der italienischen Einigung sieht Schulz dann eine Zeitenwende erreicht, ab der das "Spannungsverhältnis zwischen Konzertnormen und imperialistischer Mentalität" (524) die zunehmende Aushöhlung des Konzerts zur Folge gehabt hätte.
All diese Erkenntnisse hebt der Autor schließlich in seinem dritten Hauptteil mit dem Titel "Institutionalisierung und normativer Diskurs" auf eine systematische Ebene und versucht sich an einer "knappe[n] historisch-soziologische[n] Bilanz des Konzerts und der Friedenskultur" (538). Daraus ergibt sich der mit Abstand spannendste Teil der Studie. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass kollektive Handlungsformen und normative Abwägungsprozesse hier klarer herausgestellt werden. Zudem begibt sich Schulz verstärkt auf die begriffsgeschichtliche Ebene und bezieht vermehrt ideengeschichtliche Quellen - Reflexionen von Akteuren wie Außenstehenden über das Konzert - heran. Erkenntnis leitend ist die Frage nach der Verinnerlichung von internationalen Normen durch die Akteure des Konzerts. Wie nach den vorangehenden Kapiteln nicht mehr überraschend, ist es ein zentrales Ergebnis, dass das Konzert nicht länger als "antirevolutionäres Interventionsorgan der Großmächte" gedeutet werden kann. Vielmehr gelte es, die Konflikte um Normen innerhalb desselben wahrzunehmen.
Weniger neue Erkenntnisse im Detail, als vielmehr ihre Einordnung in einen größeren Zusammenhang und die Konzentration auf die Frage nach dem normativen Wandel sowie die beharrliche Mühe um eine Klärung der Begrifflichkeiten machen den großen Wert dieser Studie aus. Zudem gelingt es Schulz an vielen Stellen, weitverbreitetes Handbuch-"Wissen" zurechtzurücken, sei es beim Hinweis auf die unzulässige Gleichsetzung von Heiliger Allianz und Europäischem Konzert oder auf die angeblichen Prinzipien Legitimität und Restauration beim Thema Gebietsverteilung. Besonders gut nutzbar wird das Werk durch das umfangreiche Sach- und Personenregister. Gemeinsam mit den beiden verdienstvollen Bänden des "Handbuchs der Geschichte der Internationalen Beziehungen" [4] bildet die Studie von Matthias Schulz den Grundstock deutschsprachiger Forschungsliteratur, an dem für die Geschichte der Internationalen Beziehungen im 19. Jahrhundert fortan nicht vorbeizukommen ist.
Anmerkungen:
[1] Siehe die Homepage des Forschungsprojektes unter http://www.wiener-kongress.at [21.12.2009] und Wolfgang Pyta (Hg.): Das europäische Mächtekonzert. Friedens- und Sicherheitspolitik vom Wiener Kongreß 1815 bis zum Krimkrieg 1853, Köln / Wien / Weimar 2009.
[2] Jost Dülffer / Martin Kröger / Rolf-Harald Wippich (Hgg.): Vermiedene Kriege. Deeskalation von Konflikten der Großmächte zwischen Krimkrieg und Erstem Weltkrieg, München 1997.
[3] Vgl. stellvertretend Paul W. Schroeder: The Transformation of European Politics 1763-1848, Oxford 1994.
[4] Michael Erbe: Revolutionäre Erschütterung und erneuertes Gleichgewicht. Internationale Beziehungen 1815-1830 (= Handbuch der Geschichte der Internationalen Beziehungen; 5), Paderborn / Wien 2004; Winfried Baumgart: Europäisches Konzert und nationale Bewegung. Internationale Beziehungen 1830-1878 (= Handbuch der Geschichte der Internationalen Beziehungen; 6), Paderborn / Wien 1999.
Eva Maria Werner