Élisabeth Louise Vigée Le Brun: Souvenirs 1755-1842. Texte établi, présenté et annoté par Geneviève Haroche-Bouzinac (= Bibliothèque des Correspondances, Mémoires et Journaux; No. 42), Paris: Editions Honoré Champion 2008, 852 S., ISBN 978-2-7453-1695-0, EUR 130,00
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Didier Masseau (ed.): Élisabeth Vigée Le Brun, "Les Femmes régnaient alors, la Révolution les a detrônées." Souvenirs, 1755-1842, Paris: Tallandier 2009, 624 S., ISBN 978-2-84734-520-9, EUR 25,00
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Hunderte Jakobiner und Royalisten, Bonapartisten, Emigranten und Eroberer hatten bereits Erinnerungen an ihr Leben vor, während und nach den Verwerfungen der Französischen Revolution publiziert, als 1835 und 1837 bei Hippolyte Fournier in Paris die drei Bände der "Souvenirs de Madame Louise-Elisabeth Vigée-Lebrun" erschienen. Dass die Lebenserinnerungen der Portraitistin aus dieser Memoirenschwemme herausragen, liegt nicht allein an der langen, durch ihre Emigration ab 1789 auf eine internationale Ebene gehobenen Karriere, von der sie erzählen. Aus der französischen Künstlerschaft ist nach der Revolution niemand sonst zu Lebzeiten mit einem autobiografischen Narrativ an die Öffentlichkeit gegangen. Dazu handelt es sich bei den Memoiren Vigée-Lebruns um das früheste literarische Selbstzeugnis einer Künstlerin überhaupt, doch gerade dieser Umstand gereichte den "Souvenirs" nicht unbedingt zum Vorteil: Die bislang gebräuchlichste Ausgabe ist eine seit 1984 mehrfach aufgelegte "Édition féministe", deren Herausgeberin nicht nur den durch stilistische Glättungen verfälschten Text der 1869 durch Gervais Charpentier verlegten Fassung wiedergibt, sondern diese auch noch für die Erstausgabe hielt und lediglich ein paar Fußnoten entsprechender Güte einstreute. [1]
Der Nutzen einer kommentierten Ausgabe dieses Quellentextes für die Forschung ist deshalb so evident wie die Messlatte niedrig hängt. Aus beiden Gründen sind die 2008 und 2009 erschienenen neuen Editionen der "Souvenirs" durch zwei französische Literaturwissenschaftler zu begrüßen, mit denen alternative, erstmals durch Kommentierung und Register erschlossene Bearbeitungen der Erstausgabe zur Verfügung stehen. Didier Masseau legte dabei eine Fassung vor, die den beschränkten Ansprüchen an eine möglichst günstige Ausgabe für den interessierten Laien in jeder Hinsicht gerecht wird, wenn nicht übertrifft. Die ein Jahr zuvor erschienene Bearbeitung durch Geneviève Haroche-Bouzinac hingegen stellt die gegenwärtig beste Ausgabe dar und dürfte die für die Forschung künftig maßgebliche darstellen, bleibt jedoch hinter den Erwartungen zurück. So ist dem Rezensenten das nahezu uneingeschränkte Lob, das Joseph Baillio, der Doyen der monografischen Forschung über die Künstlerin, dieser neuen Edition zollte, schwer nachvollziehbar. [2] Angesichts der hohen Standards, die 2004 von einer durch Anna Villari kommentierten, sorgfältig edierten und nebenbei auch fabelhaft ausgestatteten Teilübersetzung der "Souvenirs" ins Italienische gesetzt wurden, muss von einer gewissen Enttäuschung gesprochen werden. [3]
Wie Haroche-Bouzinac in ihrer Edition feststellt, sind die Erinnerungen Vigée-Lebruns viel zu oft als ein Tatsachenbericht missverstanden worden, doch der implizit selbstgestellten Aufgabe, den Text durch den "filtre critique" (7) zu pressen, wird sie nur bedingt gerecht. Das gilt nicht allein für die ausführliche, fast den Rang einer eigenständigen Studie beanspruchende Einleitung (7-118), sondern auch für die Kommentierung dieser Quelle durch leserfreundliche Fußnoten (121-776). Die Herausgeberin geht in ihrer Einleitung zunächst auf die literarische Form des Textes ein (10-18), um am Ende dessen Genese, zu der Vorarbeiten im Besitz der Universität Rochester (New York) und in privaten Sammlungen überliefert sind, zu untersuchen (105-118). Darüber hinaus werden eine Reihe weiterer thematischer Schwerpunkte verhandelt, so die Kindheit und Ausbildung der Künstlerin (19-50), die Bedeutung des Versailler Hofes für ihre Karriere (65-75) oder die Frage der Anerkennung durch Aufnahmen in Kunstakademien (81-90).
Die meisten dieser Sujets indessen sind von der kunsthistorischen Forschung längst differenzierter untersucht worden. Für Fragen nach der korporativen Struktur der Pariser Künstlerschaft, nach der den Künstlerinnen der Zeit zugutekommenden, eigenverantwortlichen Lehrtätigkeit selbst von Professoren der Académie Royale oder nach der Organisation der höfischen Kunstadministration hätte man sich die Beteiligung eines Kunsthistorikers gewünscht. Ein solcher hätte die von Haroche-Bouzinac akzeptierte Selbststilisierung der Künstlerin zur Autodidaktin (43) vermutlich relativiert und wäre auch auf ihre Mitgliedschaft in der Académie de Saint-Luc eingegangen, die der Künstlerin 1774 ein von der Herausgeberin gar nicht registriertes Ausstellungsdebüt ermöglichte und der eben nicht nur ihr Vater Louis Vigée (81) oder Lehrer wie Pierre Davesne (129) angehörten.
Man muss auch kein Revolutionshistoriker sein, um Ausführungen Haroche-Bouzinacs über die mit der Ereignisgeschichte nicht ohne Weiteres kompatible Selbststilisierung Vigée-Lebruns zu einer sofort und unmittelbar bedrohten, dem "affreuse année de 1789" (251) nur knapp entkommenen Überlebenden zu vermissen. Die nach der Wiederherstellung der Monarchie schreibende Künstlerin definiert den Ausbruch der Französischen Revolution als die Urkatastrophe ihrer Memoiren, doch weisen schon textimmanente, von der Herausgeberin übergangene Widersprüchlichkeiten auf retrospektive Retuschen hin: Handelte es sich bei der Abreise aus Paris wirklich um eine Flucht (259-261) oder nicht zumindest auch um eine lange ersehnte Künstlerreise nach Italien (361)? Wie sonst konnten 1789 Künstlerfreunde wie Hubert Robert, ihr Bruder und selbst ihr Gatte zurückbleiben (258), wie konnte die Künstlerin 1791 nach Paris geschickte Gemälde im Salon ausstellen (299) oder 1792 auf den Rückweg ins revolutionäre Frankreich (455) bis Turin kommen?
Von den Ausführungen zur bislang kaum im Ansatz untersuchten Textgenese (111-118) hingegen, an der mindestens drei jüngere Mitglieder der Verwandtschaft Vigée-Lebruns beteiligt waren, hätte man sich größeren Erkenntnisgewinn durch eine Philologin erhofft. So datiert Haroche-Bouzinac den Beginn der Vorarbeiten für die Memoiren kurzerhand auf das Jahr 1829 (110) und bestreitet, dass der Anfang des Manuskriptfragments im Besitz der University of Rochester, in dem Vigée-Lebrun von der begonnenen Niederschrift ihrer Lebenserinnerungen berichtet, einen "brouillon de lettre" darstellen könnte (112). Eben das aber ist der Fall, und der bereits von Edmond de Goncourt veröffentlichte, ein Datum tragende Brief der Künstlerin an den Schriftsteller (und möglichen Mitarbeiter) Louis-Aimé Martin belegt, dass Vigée-Lebrun bereits 1825 ihr Vorhaben in Angriff nahm, immerhin zehn Jahre vor Drucklegung des ersten Bandes. [4]
Die Stärke der Kommentierung dieser Textquelle durch gut 1200 Anmerkungen Haroche-Bouzinacs liegt in der Identifizierung der auftretenden Akteure, durch die sich das sich über ganz Europa erstreckende Netzwerk in der Regel profitabler Bekanntschaften der Künstlerin erkennen lässt. Ebenfalls dokumentiert wird die Vielzahl von in den "Souvenirs" genannten Werken Vigée-Lebruns, allerdings finden sich Literaturhinweise in der Regel nur dann, wenn das jeweilige Gemälde in den wenigen zu Rate gezogenen Veröffentlichungen von Joseph Baillio, Lada Nikolenko und Andrzej Ryszkiewicz aufgeführt ist. Bisweilen führt dieses beschränkte Interesse zu Pannen: Riskierte Vigée-Lebrun auf dem Weg nach Italien wirklich eine Entdeckung durch Mitreisende, weil im Salon gerade ihr für den Comte d'Angiviller gemaltes Selbstbildnis zu sehen gewesen war (259)? Haroche-Bouzinac gibt den heutigen Aufbewahrungsort des Gemäldes an und fügt Angaben zur Biografie des Besitzers hinzu (259f.), doch unterbleibt der entlarvende Hinweis darauf, dass das Bild im Salon entgegen den Angaben der Künstlerin gerade nicht ausgestellt war.
Im praktischen Umgang mit dieser Ausgabe dürfte der vielleicht größte Nutzen deshalb in der erstmaligen Erschließung der "Souvenirs" durch ein Namensregister (799-831), ein Ortsregister (833-836) und ein Register der in Text und Anmerkungen erwähnten literarischen Veröffentlichungen, Opern und Musikstücke (837-841) liegen. Ärgerlich sind Nachlässigkeiten des Lektorats wie mehrfach fehlende Seitenangaben im Ortsregister und die beliebig anmutende Ausstattung mit 21 Tafelabbildungen, auf die nirgends im Text verwiesen wird. Vor allem aber hätte man sich von einer sich im besten Sinne akademisch gebenden Edition mit umfangreicher Auswahlbibliografie (779-798) einen weniger selektiven Gebrauch der Forschungsliteratur erwartet. Diese benutzt Haroche-Bouzinac vorzugsweise dann, wenn sie in französischer Sprache vorliegt. Der Rezensent zählte in Einleitung und Stellenkommentaren nur ein Dutzend nicht französischsprachiger Veröffentlichungen, dafür aber endemisch viele Fehler in deren Literaturangaben - verwiesen sei nur auf gleich drei für die genannte, in ihrem Kommentar vorbildliche Teilübersetzung ins Italienische (779).
Während die Bearbeitung der "Souvenirs" von Geneviève Haroche-Bouzinac die hohen Erwartungen nur bedingt einlösen kann und für die Forschung dennoch die maßgebliche Edition darstellen wird, tritt die jüngste Ausgabe von Didier Masseau mit deutlich bescheidenerem Anspruch an. Sie bietet eine vergleichsweise kurze, allgemein gehaltene Einleitung (9-31) und lässt dem Text der Erstausgabe (32-527) einen mit knapp 800 Endnoten recht ansehnlichen Kommentarteil (529-613) folgen. Letzterer fällt nur um ein Drittel kleiner aus als derjenige der Edition Haroche-Bouzinacs, und in manchen Fragen, so in der Rolle der Pariser Académie de Saint-Luc und ihrer Mitglieder für die Ausbildung und die frühe Karriere der Künstlerin, beweist Masseau mehr Gespür gerade für Zusammenhänge, die Vigée-Lebrun selbst mit Stillschweigen übergeht (15, 530f., 532). Forschungsliteratur wird freilich nur ausnahmsweise angegeben, und die äußerste Zurückhaltung, mit der in den "Souvenirs" erwähnte Werke der Künstlerin nachgewiesen werden, fällt gegenüber der Edition Haroche-Bouzinacs noch weiter ab. Etwas willkürlich mutet die Umgruppierung der ursprünglich dem ersten Band beigegebenen literarischen Miniaturen von prominenten und minder prominenten Zeitgenossen (459-507) an; Gleiches gilt auch für den Abdruck der Werkliste Vigée-Lebruns nach der Ausgabe von 1869 einschließlich der falschen Zuordnung einer Gruppe von Arbeiten nach Venedig statt nach Wien (524).
Was das Verhältnis zwischen den Memoiren Vigée-Lebruns und ihrem umfangreichen Œuvre angeht, erinnern letztlich beide Ausgaben daran, dass das seit fast drei Jahrzehnten von Joseph Baillio angekündigte Werkverzeichnis noch immer aussteht. Es stellt mittlerweile nicht nur eine Hoffnung, sondern längst auch ein Hemmnis für die Forschung dar. Ein Erscheinen dieses Œuvrekataloges wird am Ende jede Kommentierung der Memoiren Élisabeth Vigée-Lebruns dringender Überarbeitung anheimstellen. Bis dahin bleibt die Wahl zwischen zwei Quelleneditionen der "Souvenirs", von denen ein Kunsthistoriker die überlegene Bearbeitung Geneviève Haroche-Bouzinacs mit einer gewissen Unzufriedenheit konsultieren wird, während die Ausgabe Didier Masseaus für nur ein Fünftel des Preises zwar die Erwartungen übertrifft, es aber nur deshalb kann, weil sie sich an ein fachfremdes Publikum wendet.
Anmerkungen:
[1] Claudine Herrmann (Hg.): Élisabeth Vigée Le Brun. Souvenirs, 2 Bde., Paris 1984 (und Neuauflagen 1986 und 2006).
[2] Joseph Baillio: Une nouvelle Édition des "Souvenirs" de Madame Vigée Le Brun (1755-1842), URL: [Zugriff am 26. 12. 2009]) http://www.latribunedelart.com/une-nouvelle-edition-des-em-souvenirs-em-de-madame-vigee-le-brun-1755-1842-article001583.html.
[3] Fernando Mazzocca (Hg.): Viaggio in Italia di una donna artista. I "Souvenirs" di Elisabeth Vigée Le Brun, Mailand 2004.
[4] "Enfin, mon bien bon, j'ai commencé ce que vous m'aviez tant redemandé depuis plusiers années" (Brief Vigée-Lebruns an Martin, 23. 11. 1825, in: Edmond de Goncourt: La Maison d'un artiste, 2 Bde., Paris 1881 [Reprint Dijon 2003], II, 270f.).
Gerrit Walczak