Jean-Paul Cahn / Hartmut Kaelble (Hgg.): Religion und Laizität in Frankreich und Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert / Religions et laicité en France et en Allemagne aux 19e et 20e siècles (= Schriftenreihe des Deutsch-französischen Historikerkomitees; Bd. 5), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2008, 197 S., ISBN 978-3-515-09276-0, EUR 40,00
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Es gibt in Europa drei Modelle des Verhältnisses von Staat und Kirche oder - in der Begrifflichkeit der über Artikel 140 des Grundgesetzes als Verfassungsrecht der Bundesrepublik Deutschland fortgeltenden Kirchenartikel der Weimarer Reichsverfassung von 1919 - Staat und Religionsgesellschaften, was nichtchristliche Religionen einschließen kann: Das staatskirchliche Modell mit der Church of England und der Church of Scotland in Großbritannien oder der lutherischen "folkskirke" in Dänemark (Schweden hat die Staatskirche seit 2000 aufgegeben), das laizistische Modell der strikten Trennung von Staat und Religionsgemeinschaften in Frankreich und das deutsche Modell der "zugunsten der Kirchen gemilderten Trennung von Staat und Kirche" (Reinhold Zippelius). Die USA verbinden seit dem "First Amendment" von 1791 die strikte Trennung von Staat und Kirche mit der Garantie der freien Entfaltung aller Religionen. "Das Modell der protestantischen Staatskirche erscheint kaum mehr zeitgemäß. Wir wissen aber noch nicht, ob die Zukunft der Beziehungen von Staat und Religionsgemeinschaften in Europa eher dem französischen oder dem amerikanischen oder dem deutschen Modell entsprechen wird." [1]
Das Verhältnis von Staat - oder, wie der Bischof von Basel, Kurt Koch, in dem Band "Religion und Öffentlichkeit" von Mariano Delgado, Ansgar Jödicke und Guido Vergauwen von 2009 hervorhebt: Öffentlichkeit - und Religionsgemeinschaften ist wichtiger, als es vor 20 oder 30 Jahren scheinen mochte. Das gilt nicht nur wegen der viel diskutierten "Wiederkehr der Religion" bei gleichzeitiger Infragestellung des Säkularisierungsparadigmas (dazu jetzt Matthias Pohlig u.a. [Hg.]: Säkularisierungen in der Frühen Neuzeit, Berlin 2008), sondern auch wegen der wachsenden Bedeutung muslimischer Bevölkerungsteile (dazu hier Gilles Leroux mit "La laïcité à l'epreuve du foulard islamique. Une comparaison franco-allemand"). Aktuelle Vorgänge wie das Kruzifix-Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte bezüglich Italien vom 3. November 2009 zeigen laizistische Positionen. Dabei vollzieht sich in Frankreich seit langem ein Wandel von der "Laïcité negative" zur "Laïcité positive", während in Deutschland - etwa seit dem Kruzifixbeschluss des Bundesverfassungsgerichts von 1995 - das Gegenteil zu beobachten ist, so dass Volker Wick in seiner juristischen Studie "Die Trennung von Staat und Kirche in Frankreich im Vergleich zum deutschen Kooperationsmodell" von 2007 in Deutschland eine "Entwicklung hin zu französischen Verhältnissen" (Wick, 85) für möglich hält.
Der Band von Cahn und Kaelble steht nicht allein in der Forschung, die - was Frankreich betrifft - in jüngerer Zeit in Deutschland mit Axel von Campenhausens "Staat und Kirche in Frankreich" von 1962 begann, ist aber teilweise sehr instruktiv. Das gilt für Cahns "Introduction. De l'actualité d'une demarche comparatiste et transnationale", der das Trennungsgesetz von 1905 in der Tradition des jakobinischen Antiklerikalismus sieht, die Geschichte der Laïcité in der Vierten und Fünften Republik skizziert und Laïcité im Frankreich von heute als "un mode de vie social" (12) versteht. Statt von "Laïcité negative" und "Laïcité positive" spricht er von "Laïcité de séparation" in der Dritten und Vierten Republik - auch "Laïcité rigoureuse" - und von "Laïcité de reconnaissance" heute: "En cela elle se distingue de la forme traditionelle de la laïcité qui pouvait envisager de ´connaître´ des religions, de discuter par example avec leurs représentants, mais non de les ´reconnaître´" (12). Er erwähnt die fortbestehende Sonderstellung der drei Départements des ehemaligen Elsass-Lothringen - 1905 Teil des Deutschen Reiches - , wo das Konkordat von 1801 fortgilt, hebt die positive Stellungnahme des französischen Episkopats zur Laïcité von 1945 hervor, zitiert das Wort von Alfred Grosser - "La principale différence entre un évêque allemand et un évêque français, c'est que le premier parle de la pauvreté, tandis que le second est pauvre" (8) - und geht auf Probleme der Unterhaltung vor 1905 errichteter Kirchengebäude ein. Er kommt zu dem Ergebnis: "L'Allemagne, n'est ni plus ni moins religieuse que la France n'est laïque" (8). Doch ist er mit den Verhältnissen in Deutschland kaum vertraut. Er kennt den Augsburger Religionsfrieden (1555), den Westfälischen Frieden (1648), das bayerische Konkordat von 1817 - er nennt irrtümlich das Jahr 1821 (18) und das Reichskonkordat von 1933, aber weder die Paulskirchenverfassung von 1848 oder die revidierte preußische Verfassung von 1850 noch die Weimarer Reichsverfassung - aus dem Grundgesetz von 1949 führt er nur die Präambel (Gottesbezug) und die Art. 2 I und 4 I an.
Heidrun Homburg schreibt über "Zwischen religiöser Kultur und Weltlichkeit: Die Herrnhuter Brüdergemeinde und die Firma Abraham Dürninger & Co im 19. und frühen 20. Jahrhundert" und Françoise Knopper über "Moritz Hartmann et la premiere laïcisation dans le Midi de la France". In die Vorgeschichte von 1905 führt Philippe Alexandre mit "La loi scolaire française du 28 mars 1882 et la question de l'enseignement laïque. Un debat dans la presse allemand". Dem Vergleich zwischen Frankreich und Deutschland dienen die Beiträge von Jean Philippon, "Le combat pour la laïcité dans un village de Bourgogne (1871-1906) et le 'Kulturkampf'", Anne Salles, "Le role des églises aupres des familles. Une comparaison France - Allemagne" und Stephanie Schlesier, "Das religiöse Leben der jüdischen Gemeinden in Lothringen und der preußischen Rheinprovinz im 19. Jahrhundert". Dominique Trimbur hätte in "La rivalité politico-religieuse franco-allemande au Levant, 1855-1948" neben den katholischen Aktivitäten in Palästina für Deutschland die protestantische Seite der Zeit Kaiser Wilhelms II. einbeziehen sollen. Zu nennen sind auch Caroline Doublier mit "Ecole confessionelle, école simultanée, école laïque: la confrontation des modèles allemands et française dans la Zone d'Occupation Française (1945-1949)" und Frédéric Hartweg mit "Les églises protestantes de RDA et le 17 juin 1953".
Pascal Eitler grenzt sich in "'Wende zur Welt'? Die Politisierung der Religion in der Bundesrepublik Deutschland um 1968" von der theologischen Kirchengeschichtsforschung, der Konzentration auf "Ideen einiger weniger" und der Reduzierung von "Kirche auf kirchliche Entscheidungsträger" (140) ab, beschäftigt sich aber selbst mit Ideen einiger weniger - Johann Baptist Metz, Norbert Greinacher, Karl Rahner, Jürgen Moltmann, Helmut Gollwitzer, Dorothee Sölle. Wichtiger ist das Ergebnis, mit dem er einer auf die Statistik des Gottesdienstbesuchs und der Kirchenaustritte abhebenden Säkularisierungsthese entgegen tritt: "Kirche und Religion gewannen zwischen Mitte der 60er und Mitte der 70er Jahre an gesellschaftlicher Relevanz, gerade weil Religion in einem bis dahin unbekannten Ausmaß politisiert wurde" (149f.). Nur fragt sich, ob nicht gerade das Säkularisierung ist.
Der Band ist selbst ein Stück Laïcité, weil kein Theologe zu Wort kommt und die Innenseite von Kirche und Religion undeutlich bleiben.
Anmerkung:
[1] Harm Klueting: Die Säkularisation von 1803 und die Beziehung von Kirche und Staat zwischen Spätmittelalter und Gegenwart. In: ders. [Hg.]: 200 Jahre Reichsdeputationshauptschluss, Münster 2005, 27-66, Zitat 66.
Harm Klueting