Silke Satjukow: Befreiung? Die Ostdeutschen und 1945, Leipzig: Leipziger Universitätsverlag 2009, 288 S., ISBN 978-3-86583-252-8, EUR 29,00
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Im ersten Kapitel stellt die Autorin ihre These vor: 1947 habe die sowjetische Besatzungsmacht in der SBZ den "Mythos der Befreiung des deutschen Volkes" installiert. Die Arbeit sei ein "Versuch, diese vermeintlich versöhnliche Erzählung von der Befreiung aus der Perspektive der Sowjetrussen als auch aus der Sicht der Ostdeutschen kritisch zu prüfen." (10) Im zweiten Kapitel wird noch ein "Mythos des Anfangs" der kommunistischen Führer eingeführt, der mit einer "doppelten" Befreiung vom Faschismus und Kapitalismus die "kollektive Erlösung" versprach. Detailreich werden im dritten Kapitel die "Medien des Mythos" analysiert: Die Ritualisierung des 8. Mai als "Tag der Befreiung", die Schule und der Russischunterricht darin, ostdeutsch-sowjetische Alltagsbeziehungen, Befreiung als Thema in Film und Fernsehen sowie die Gesellschaft für deutsch-sowjetische Freundschaft als Ort ritueller Konversion. Das letzte - vierte - Kapitel heißt: "Vom Umgang mit der Schuld".
Die Bilanz lautet: Der Befreiungsmythos hat eine ambivalente Wirkung entfaltet. Offiziell brachte er keine Entlastung von der "Last der Vergangenheit" und wandelte sogar die historische Schuld in Erbschuld um (246), inoffiziell schuf er aber einen Ausgleich (261). In der DDR habe sich ein differenzierteres Bild der "Russen" durchgesetzt als in Westdeutschland und in der zweiten und dritten (ostdeutschen) Generation habe sogar ein Umlernen stattgefunden. Eine einzelne Umfrage von 1995 soll schließlich eine "geteilte Erinnerung an die allen Deutschen gemeinsame Geschichte" und damit unterschiedliche "Gedächtnisbilder" in Ost und West belegen. Übersehen wurden aber gleich etliche andere Umfragen. Sie passen nicht ins Bild, weil sie dreierlei dokumentieren: Erstens hatten Westdeutsche (mit Ausnahme der Westberliner) 1989/90 ein besseres Bild von den "Russen" als Ostdeutsche, zweitens war das Erinnerungsbild der ostdeutschen Kriegsgeneration besser als das der "Nachgeborenen" und drittens fand das "Umlernen" der zweiten ostdeutschen Generation und vor allem die "Doppelwelt" der "nach dem Mauerbau geborene[n] 'entgrenzte[n] [dritten] Generation'" (94) schon in den 1980er Jahren ein jähes Ende: Die ostdeutsche Jugend hatte sich nämlich schon damals dem Westen zugewandt und dies auch mit einer totalen Umwertung des "umgelernten Russen-Bildes" unterstrichen.
Das wäre aber blanker Positivismus. Die Saga besteht aus einer Kathedrale kulturologischer Konstrukte, deren Rohbau mit ausgesuchten Wirklichkeitselementen verfüllt wird. Auf vortreffliche Weise wird mit erheblichem rhetorischem und stilistischem Aufwand Banales als Sakrales verkleidet und Komplexes in farbigen Suggestivbildern aufgelöst. Herrnstadts (sowjetische) Auftragsarbeit "Über 'die Russen' und über uns" von 1948 etwa wird als Tabubruch dramatisiert, der "'Ruhm' der Sieger und das 'Trauma' der Besiegten, mehr noch: deren chiastische Beziehung [begründeten] eine schwerwiegende 'Erbschaft aufeinanderfolgender Generationen'." (257)
Die Lektüre ist anstrengend. Faktografische Ungenauigkeiten sprengen wiederholt das theoretische Gerüst. Aber gefesselt vom Geheimnis der retrospektiven Verwandlung der "Schuld" in "Erbschuld", orientierungslos in Zeit (die ostdeutsche Geschichte beginnt erst 1945, mit einem obskuren Vorspiel der "gesamtkollektiven" Schuld; bar jedes fortwirkenden "präpönalen" Gedächtnisses, wie es das Mehrgenerationengedächtniskonzept eigentlich hätte vermuten lassen) und Raum (die im geografischen Sinne "ostdeutsche" Geschichte wird politisch korrekt zur DDR-Vorgeschichte verschoben) und neugierig, ob in der atheistischen Theologie der Glaube an das come back wirklich im Zentrum steht, wie ein (kommunistischer) Aphoristiker einmal laut lästerte, liest man weiter. Herausgegriffen seien einige Kleinigkeiten. Dass die DDR-Deutschen in ihrem Gedächtnis die "Völker der Sowjetunion" ausschließlich als "Russen" und "Opfer-Helden" über einen Kamm scheren, irritiert. Die DDR-Deutschen erinnern auch falsch, dass der "Mythos der Befreiung" schon seit 1947 offizielle sowjetische Politik war: Erst 1950 nämlich salvierte Stalin dieses "Propagem", das im deutschen Gedächtnis als "Ostorientierung" schon fest etabliert war. Insgesamt gesehen (und der vorgeschriebenen Kürze verpflichtet) rezipiert das vorgestellte ostdeutsche Gedächtnis nur die Breschnew'sche Kriegsgedächtnispolitik. Daher überrascht auch die Konvergenz mit der neuen russischen Gedächtnispflege nicht, die auf dieser Ikonostase basiert. Merkwürdigerweise transportieren die ostdeutschen Erinnerungsbilder kein einziges Fragment aus der Chruschtschow'schen Tauwetter-Periode. Dies ist schon deshalb auffällig, weil sogar die DDR-"Patriarchen" seit 1956 das ("andere") Schuldgeständnis beharrlich verweigerten. Außerdem ist im russischen Gedächtnis der "Krieg" nicht antiseptisch isoliert wie im deutschen, denn er begann mit der Kollektivierung und endete erst mit dem Tod Stalins bzw. mit dessen moralischer Verdammung. Mag sein, dass ein staatlich okkupiertes Gedächtnis solches nicht freigibt, weil die authentische Erinnerung unwillkürlich als existenzielle Bedrohung "erinnert" wird. Die Filter solcher lebenserhaltenden Erinnerungsselbstzensur hätten aber Beachtung verdient.
Die These Satjukows, dass Ziel und Mittel der offiziellen imaginären Freundschaftspolitik darin bestanden, Distanz zwischen den Versöhnungsgruppen zu zementieren, sodass Nähe nur informell entstehen konnte, erscheint nachvollziehbar. Ihr Stellenwert ist aber so zentral, dass die Intensität der informellen Kontakte während der fünfzig Jahre interessiert hätte, was ja anhand verschiedener Indikatoren hätte dargestellt werden können. Zudem läge es nahe, auch die offizielle NS-Gedächtnispolitik aus diesem Blickwinkel zu sehen und die intensiven formellen wie informellen Kontakte zwischen Deutschen und "Russen" (sowjetische Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter in Deutschland, die Front- und Gefangenschaftserfahrung von Abermillionen) zu thematisieren. Das "Trauma des Sieges" (Konstantin Simonow) schließlich fehlt genauso wie die "Westoption" der Ostdeutschen: Seit 1944 war sie dokumentiert und später in der sarkastischen Metapher "von allem befreit" konserviert. Schon 1945 konstatierte die US-amerikanische Besatzungsmacht mit Blick auf die SBZ, dass 'die Westoption' "is doubtless general enough to form a powerful factor influencing behavior". Das mag aber viel zu profan sein.
Das systematische kulturologische Vorgehen verschiebt nicht nur die zeitlichen und die politischen Perspektiven, sondern bringt auch die genetische Dimension zum Verschwinden und verwischt dabei die Konturen der ostdeutsch-sowjetischen Interaktion bis zur Unkenntlichkeit. Das Buch ist sehr lehrreich, weil es auf kompensatorische Elemente sowie auf "fremde" rituell-liturgische Bewältigungsmuster im kulturellen Gedächtnis der Ostdeutschen aufmerksam macht und damit auch die Grenzen des Konzepts aufzeigt, die DDR-Geschichte nur als "richtige" Erinnerungsgeschichte zu behandeln.
Jan Foitzik