Thomas Kreutzer: Verblichener Glanz. Adel und Reform in der Abtei Reichenau im Spätmittelalter (= Veröffentlichungen der Kommission für geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg. Reihe B: Forschungen; Bd. 168), Stuttgart: W. Kohlhammer 2008, XLIX + 582 S., ISBN 978-3-17-019760-2, EUR 49,00
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Als benediktinische Reichsabtei zog die Reichenau den Forschungsblick immer wieder auf ihr Verhältnis zum Königtum, besonders in ottonisch-salischer Zeit, in der die Reichsklöster und -stifte neben den Bistümern die Stützen der Reichskirche bildeten und mit bistumsgleichen Hoheitsrechten ausgestattet waren. Kaum beachtet wurde bislang hingegen die spätmittelalterliche Geschichte des Konvents. Spätestens im 14. Jahrhundert sah man sich auf der Reichenau mit einem "Grundproblem" konfrontiert: der "hochadligen Exklusivität, die zu personellem Notstand, zur Vernachlässigung des Gottesdienstes und zur Einmischung der Verwandtschaft in die Angelegenheiten des Klosters führte" (1). Mit dieser Feststellung leitet Thomas Kreutzer ein in die Forschungsproblematik seiner Dissertation, die im Rahmen des Graduiertenkollegs "Sozialgeschichte von Gruppen, Schichten, Klassen und Eliten" an der Universität Bielefeld 2003/2004 abgeschlossen wurde.
In der Forschung wird gemeinhin die Entwicklung der Reichenau spätestens ab der Mitte des 14. Jahrhunderts als ein kontinuierlicher Niedergang beschrieben. Thomas Kreutzer geht der Frage nach, inwieweit es wirklich ein Niedergang war oder ob nicht eher von einem Wandel zu sprechen ist, hervorgerufen durch die sich verändernden Außeneinflüsse. Der differenzierte Blick auf die aufeinander bezogenen gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Wandlungsprozesse, die von Krisen begleitet waren, macht Ereignisse innerhalb der klösterlichen Strukturen sichtbar, die die sich wechselnden Rahmenbedingungen in der Abteigeschichte als vielschichtige Anpassungsvorgänge erkennen lassen. Aufbauend auf dem theoretisch-methodischen Konzept von Reinhard Bendix [1], dem historischen Wandel anhand von sozialen Strukturen und ihren durch diesen Wandel innewohnenden Veränderungen nachzugehen, führt Kreutzer ein in den Forschungsrahmen seiner Arbeit, indem er die strukturellen Veränderungen der sozialen Kreise, aus denen sich der Konvent zusammensetzt, analysiert. Diese Veränderungen sind in "individuelle und gruppenspezifische Interessen und Ziele eingebunden" (5). Die Sicherung der sozialen Stabilität und Identität ist einem Prozess von Anpassung und Kompromissen unterworfen. Verfallsphänomene, so Kreuzer, forderten nach Problemlösungen, denen im Hauptkapitel "Die Reichenau im institutionellen, personellen und gesellschaftlichen Kontext" ausführlich nachgegangen wird. Um es vorweg zu nehmen, es gelang Thomas Kreutzer die Entwicklung der Abtei als strukturelle Anpassung an eine sich grundlegend ändernde politische und gesellschaftliche Außenwelt in klar gegliederter Form darzustellen. Eine Anpassung, die nicht den Niedergang einstiger Größe in sich trug, als vielmehr einen hohen Grad an Flexibilität in der Konzentration auf regionale Bezüge im Bereich des kirchen- und allgemeinpolitischen Handelns offenbart, auch wenn in Kreutzers Forschungsargumentation neben den umfassenden politischen und wirtschaftlichen Darstellungen eine noch stärkere Einbindung der theologisch-spirituellen Leistungen der Abtei in die Beweisführung wünschenswert gewesen wäre. Ausgehend von den Reformbemühungen, die Anfang des 14. Jahrhunderts die einzelnen Äbte begleiteten und die sie mehr oder weniger erfolgreich umsetzten, wird deutlich, dass das monastische Leben, die wirtschaftliche Verwaltung sowie das geistliche und geistige Wirken stark von den klösterlichen Führungspersönlichkeiten beeinflusst wurde. Die Regelung der Einkünfte, die Zulassung des niederen Adels beziehungsweise bürgerlicher Konversen innerhalb der klösterlichen Gemeinschaft zeigten Neustrukturierungen und prägten die innere Organisation und das klösterliche Beziehungsgeflecht nachhaltig. Zentral fragt Thomas Kreutzer hier nach dem Verhältnis zwischen den Äbten und den Konversen, nach der Besetzungspolitik, nach den einzelnen Karrieren und geistlichen Pflichten, entsprechend der jeweiligen persönlichen Qualifikation oder familiären Beziehung. Diese Untersuchungen münden in den Studien zur personellen Zusammensetzung des Konvents, zu dessen Größe und zum "Rekrutierungsgebiet" sowie der Frage nach der Durchsetzung der wirtschaftlichen und politischen Interessen der Reichsabtei im aufkommenden Kräftespiel von territorialen Herrschaften und Reich, aber auch nach der Wahrung früherer päpstlicher Privilegien gegenüber dem Einfluss des Diözesanbischofs und den verschiedenen päpstlichen Parteilichkeiten in der Zeit umstrittener Obödienzen im ausgehenden 14. / beginnenden 15. Jahrhundert.
Um diese gesellschaftlichen und sozialen Strukturen, ihre Veränderungen und ihre Bezugswandelungen aber auch ihre Konfliktpotenziale zu analysieren, galt es, das personelle Geflecht der Akteure, ihre Familienhistorien sowie Karrieren und die sich daraus erklärenden Handlungsmuster aufzuzeigen. Dieses Ziel verfolgt in besonders ausführlicher Weise die umfangreiche prosopographische Listung der Äbte und Konventualen des 14. und 15. Jahrhunderts im Anhang (249-534). Aufgeteilt in zwei Abschnitte befasst sich der erste mit dem politischen, wirtschaftlichen und geistlichen Handeln der Konventsmitglieder, der zweite Abschnitt beinhaltet eine personengeschichtliche Analyse, ähnlich einer Kurzbiographie. Erstmals in solch detaillierter Weise wurde dieser Personenkreis für das Spätmittelalter aufgenommen sowie analysiert, womit ein mustergültiger Handapparat für die weitere Forschung zur Reichenau geschaffen wurde, den man sich in dieser modellhaften Form auch für ähnliche Fallstudien zu weiteren Klöstern und Stiften wünscht. Diese grundlegenden Untersuchungen zum personellen Beziehungsgeflecht sind umso bemerkenswerter, da die von Kreutzer geschilderte Quellenlage gerade im Bereich personenorientierter Studien, schwierig war. So waren die Urkunden zum einen über mehrere Archive verteilt, zum anderen waren Konventslisten, Statuten und Personalakten verschiedenster Form erschwert zugänglich, da diese ohne Wahrung des Überlieferungszusammenhangs im 19. Jahrhundert nach archivinternen Zugehörigkeitskriterien einsortiert wurden.
Die Arbeit von Thomas Kreutzer macht deutlich, dass die Reichenau im Spätmittelalter nicht im Schatten ihrer hochmittelalterlichen kirchenpolitischen Bedeutung dahindämmerte. In dynamischer Beständigkeit stellte sie sich den ändernden gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Anforderungen mit dem ihr zur Verfügung stehenden Maß an personeller Flexibilität, organisatorischer Umstrukturierung und nicht zuletzt ordenseigener Reform. Diese Prozesse ermöglichten es den Mönchen, ihren kirchlichen und weltlichen Einfluss im Südwesten des Reichs weiterhin zu wahren. Zugleich schuf man sich, gründend auf dem hochmittelalterlichen Bibliotheksbestand, ein erneuertes kulturelles Wissenszentrum für auswärtige Gelehrte und Mönche. Erst Ende des 15. Jahrhunderts wuchs die Konkurrenz des Konstanzer Hochstifts in dem Umfang, dass die Reichenau schließlich 1540 in das Hochstift inkorporiert werden konnte.
Anmerkung:
[1] Reinhard Bendix: Die vergleichende Analyse historischer Wandlungen, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 17 (1965), 429-446.
Katja Hillebrand