Rezension über:

Nikolaus Gerhart / Walter Grasskamp / Florian Matzner (Hgg.): 200 Jahre Akademie der Bildenden Künste München. "... kein bestimmter Lehrplan, kein gleichförmiger Mechanismus", München: Hirmer 2008, 589 S., 180 farb-, 100 s/w-Abb., ISBN 978-3-7774-4205-1, EUR 49,90
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Rezension von:
Yvette Deseyve
München
Redaktionelle Betreuung:
Ekaterini Kepetzis
Empfohlene Zitierweise:
Yvette Deseyve: Rezension von: Nikolaus Gerhart / Walter Grasskamp / Florian Matzner (Hgg.): 200 Jahre Akademie der Bildenden Künste München. "... kein bestimmter Lehrplan, kein gleichförmiger Mechanismus", München: Hirmer 2008, in: sehepunkte 10 (2010), Nr. 2 [15.02.2010], URL: https://www.sehepunkte.de
/2010/02/15045.html


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Nikolaus Gerhart / Walter Grasskamp / Florian Matzner (Hgg.): 200 Jahre Akademie der Bildenden Künste München

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Schon zum 100-jährigen Jubiläum der Königlichen Akademie der Bildenden Künste München vermerkte Eugen von Stieler (1845-1929) in seinem Vorwort der Festschrift: "In Ermangelung irgend einer Vorarbeit über den Gegenstand, die als Unterlage hätte dienen können, war ich ganz auf die Durchsuchung dickleibiger Aktenbündel angewiesen, die oft nur recht kärgliche Ausbeute ergaben. Das Archiv selbst ist lückenhaft und gewährt nur selten Einblick in den Zusammenhang der festgestellten Tatsachen". [1] Weitere einhundert Jahre später haben sich die Lücken im archivalischen Quellenmaterial zwar nicht geschlossen, doch anders als bei Stieler waren erste Vorarbeiten geleistet. [2] Eine neu konstituierte, international besetzte Forschergruppe nahm sich im Hinblick auf das im Jahr 2008 zu feiernde Jubiläum gemeinsam der "dickleibigen Aktenbündel" an, mit dem erklärten Ziel, keine Institutionsgeschichte schreiben zu wollen, sondern eine "Kunstgeschichte des Hauses" (3) vorzulegen. Ergebnis dieser umfassenden und intensiven Recherchen ist eine gewichtige Veröffentlichung mit über 580 Seiten sowie zahlreichen Farbabbildungen.

Doch entgegen dem allein schon hoch gesetzten Ziel, die kunstgeschichtliche Relevanz der Münchner Akademie aufzuzeigen, hat sich die Publikation tatsächlich mehreren Anliegen verschrieben: Sie dient zum einen als offizielle Festschrift zur 200-Jahrfeier der Akademie der Bildenden Künste München, zum anderen als Ausstellungskatalog für die beiden in München gezeigten Ausstellungen "Die Kraftprobe" (Haus der Kunst, 30.05.-31.08.2008) und "Architektur im Kreis der Künste" (Architekturmuseum der TU München, 15.02-18.05.2008). Des Weiteren ist den Katalogen eine Selbstdarstellung der im Jubiläumsjahr existierenden Klassen und Lehrkräfte der Akademie sowie ihrer Gremien und Stiftungen angegliedert. Ein ausführlicher Anhang mit Chronik und Listen der Rektoren, Professoren und Ehrenmitglieder dient darüber hinaus als positivistisch angelegtes Nachschlagewerk. Dieses heterogene Konzept erschließt sich allerdings nicht auf den ersten Blick ins Inhaltsverzeichnis. Ausführliche historische "Essays" wechseln mit Ausführungen zu den Gattungen der Künste, die sich aus den genannten Ausstellungen speisen, der Bereich "Akademie heute" differenziert sich in einem eigenen Inhaltsverzeichnis innerhalb des Buchs, während der darauffolgende Anhang wiederum im ersten Inhaltsverzeichnis angeführt wird.

Aus den historischen Aufsätzen, die chronologisch das Entstehen der Institution Kunstakademie und deren künstlerische Ausrichtung verfolgen, stechen vor allem die Beobachtungen von Monika Meine-Schawe, Christian Fuhrmeister und Bernhard Schwenk heraus.

Meine-Schawe weist entgegen der seit Stieler immer wieder beschworenen Gründungsurkunde Schellings (1775-1854) - an dessen Zuschreibung die Autorin zweifelt - erstmals den für die Konstitution entscheidenden Einfluss Johann Christian von Mannlichs (1741-1822) nach, der als damaliger Direktor der Zentralgemäldegalerie zu den führenden Köpfen der bayerischen Kulturpolitik gehörte (26f.). Nur sehr verzögert reagierte die Münchner Kunstakademie auf die sich im 19. Jahrhundert verändernden künstlerisch-gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und wurde so zu einer in der zweiten Jahrhunderthälfte zwar florierenden Lehranstalt, die jedoch nicht für künstlerischen Fortschritt, sondern für eine international geschätzte, solide handwerkliche Ausbildung stand: "Immer dort, wo sich die Akademiker wenigstens in bescheidenem Umfang an die modernen Ausdrucksweisen herantasteten, taten sie dies gleichsam als Privatleute. In offizieller Funktion als Akademielehrer blieben sie tendenziell einem konservativ-idealistischen Kunstbegriff verpflichtet" (49), resümiert Hubertus Kohle. Auch der Gedanke, das System der Meisterklassen durch einen experimentellen Werkstättenunterricht zu ersetzten, wie dies um die Jahrhundertwende an privaten Kunstschulen erfolgreich praktiziert wurde, stieß, nach den Erkenntnissen von Birgit Jooss, auf Ablehnung: "Die akademische Ausbildung war darauf ausgerichtet, dass die Schüler ihrem Meister künstlerisch folgten" (61). Auch in den 1920er- und 30er-Jahren blieb die Akademie "in besonderem Maße kulturkonservativen Interpretationen des Künstlerhabitus verhaftet" (76). Mehr noch, erst nach der Neugründung und unter politischem Druck von außen kam es nach dem Zweiten Weltkrieg zur Berufung von Künstlern der ästhetischen Moderne sowie zu einem wenig überzeugend durchgeführten Entnazifizierungsprozess unter dem Dach einer sowohl Akademie als auch Kunstgewerbeschule vereinenden "Hochschule der Bildenden Künste". Diese von Wolfgang Ruppert in einem Aufsatz abgehandelten Jahre von 1918 bis 1968 werden ergänzt durch Studien über das Verhältnis der "NS-Vorzeigeakademie" (96) zum "Haus der Deutschen Kunst" als auch zum NS-Funktionär und Maler Adolf Ziegler (1892-1952). Vertikale Einschnitte in die Akademiegeschichte wie die quellennahe Arbeit Christian Fuhrmeisters über Ziegler hätte man sich in dem ansonsten horizontalen Erzählverlauf der Publikation häufiger gewünscht. Um so mehr erstaunt innerhalb des wissenschaftlichen Ansatzes der historischen Aufsätze der sehr persönlich gefärbte Bericht Thomas Zacharias' über die Nachkriegszeit und die massiven Studentenproteste des Jahres 1968. Wohl auf keine Vorarbeiten aufbauen konnte Bernhart Schwenk, der erstmals die Positionierung der Münchner Akademie im 21. Jahrhundert in Augenschein nahm und "Underground, Subkultur und Eigeninitiativen" (125) als entscheidende Impulsgeber für eine Neuorientierung der Akademie sowie der Münchner Kunstszene allgemein benennt. Mit der öffentlichkeitswirksamen Erweiterung und Renovierung sowie der im Jahr 2000 außerhalb der ehrwürdigen Mauern veranstalteten Akademieausstellung setzte, so Schwenk, eine Wahrnehmung Münchens als Ort für zeitgenössische Kunst ein.

Nachdem nun endlich der entscheidende Schritt in die Gegenwart getan schien, wirft León Krempel im zweiten Teil des Buches erneut den Blick zurück auf die einstige Glanzzeit der Münchner Kunstakademie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und stellt die Frage: "Wie international war die Münchner Kunstakademie?" Diese Frage wird hinlänglich und zunehmend redundant mit Aufsätzen über österreichische, ungarische, böhmische, polnische, baltische, skandinavische und amerikanische Künstler und Lehrende beantwortet. Die Ausführungen Michael Kochs zu der oft vergessenen, erst 1946 endgültig in der Akademie aufgegangenen ehemaligen Königlichen Kunstgewerbeschule runden die Studien zur zweihundertjährigen Geschichte der Akademie der Bildenden Künste München ab. Unübersehbar bricht die kunsthistorische Betrachtung mit der collagenartigen Präsentation der heutigen Akademieklassen ab, welche die Klasse für Kunstpädagogik bezeichnenderweise mit "Fröhlicher Schnickschnack" (441) überschrieb.

Der Publikation zum 200-jährigen Jubiläum der Akademie der Bildenden Künste München haften leider die gleichen Mängel wie der von Eugen von Stieler bereits 1909 vorgelegten Darstellung an: "Die Entstehungsart dieser Schrift bei drängender Zeit und Vielheit der zur Sprache gebrachten Dinge beeinträchtigen die Geschlossenheit der Darstellung und nötigen mehrfach zu einer mosaikartigen Aneinanderreihung der Gegenstände". [3] Dazu könnte man anfügen, dass ein Konzept, das so heterogene Anliegen mit so unterschiedlichen Ansprüchen verfolgt, sich nur schwer zu einem einheitlichen Ganzen vereinen lässt. Nichtsdestotrotz bleibt diese Publikation mitsamt den ihr Entstehen begleitenden Bänden und online verfügbaren Ressourcen eine unverzichtbare Grundlage für weitere institutionsgeschichtliche und kunsthistorische Forschungen.


Anmerkungen:

[1] Eugen von Stieler: Die Königliche Akademie der bildenden Künste zu München. Festschrift zur Hundertjahrfeier, München 1909, Vorwort.

[2] Thomas Zacharias: Tradition und Widerspruch. 175 Jahre Kunstakademie München, München 1985; Birgit Angerer: Kunstakademie zwischen Aufklärung und Romantik. Ein Beitrag zur Kunsttheorie und Kunstpolitik unter Max I. Joseph, München 1984; Wolfgang Kehr: Die Akademie der Bildenden Künste. Kreuzpunkt europäischer Kultur, München 1990; Monika Meine-Schawe: "...alles zu leisten, was man in Kunstsachen nur verlangen kann". Die Münchner Akademie der bildenden Künste vor 1808, in: Oberbayerisches Archiv 128 (2004), 125-181; Christian Fuhrmeister / Birgit Jooss (Hgg.): Nationale Identitäten - Internationale Avantgarden. München als europäisches Zentrum der Künstlerausbildung, 2006, Online-Ressource, http://www.zeitenblicke.de/2006/2; Christian Fuhrmeister / Wolfgang Ruppert: Zwischen Deutscher Kunst und internationaler Modernität. Formen der Künstlerausbildung 1918 bis 1968, Weimar 2007; Christian Fuhrmeister / Birgit Joos (Hgg.): Isar/Athen. Griechische Künstler in München - Deutsche Künstler in Griechenland, München 2008, vgl. http://archiv.ub.uni-heidelberg.de/artdok/volltexte/2008/493/

[3] Eugen von Stieler: Die Königliche Akademie der bildenden Künste zu München. Festschrift zur Hundertjahrfeier, München 1909, Vorwort.

Yvette Deseyve