Udo Benzenhöfer: Der gute Tod? Geschichte der Euthanasie und Sterbehilfe, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2009, 224 S., ISBN 978-3-525-30162-3, EUR 19,90
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Erstaunlicherweise mangelt es an guten Überblicksdarstellungen zu "Euthanasie" und Sterbehilfe, obwohl sich Historiker, Theologen, Philosophen, Mediziner und nicht zuletzt Politiker seit vielen Jahren intensiv mit diesem Themenfeld befassen. Die Spanne des Interesses reicht vom Aussetzen unerwünschter Kinder in der Antike bis zu in der Zukunft wirksam werdenden Formulierungshilfen für Patientenverfügungen. Genau dieses Spektrum schreitet Udo Benzenhöfer in seinem Buch souverän ab.
Dabei zieht Benzenhöfer, Direktor des Senckenbergischen Instituts für Geschichte und Ethik der Medizin der Goethe-Universität Frankfurt, klare Bezeichnungen den heute gängigen Begrifflichkeiten vor: "aktive Sterbehilfe" nennt er bevorzugt "Tötung Schwerkranker", "Früheuthanasie" treffender "Tötung behinderter oder schwerkranker Säuglinge". Er weist darauf hin, dass "Sterbehilfe" im Sinne der Palliativmedizin "Hilfe beim Sterben" und nicht nur "Hilfe zum Sterben" bedeuten kann (9).
Neben begrifflicher Schärfe fordert Benzenhöfer einen exakten Umgang mit den Quellen ein. Ausgehend vom frühesten Beleg für "Euthanasie" in einem Text des griechischen Dichters Kratinos aus dem 5. vorchristlichen Jahrhundert kommt er zu dem Schluss, dass der Begriff in der Antike ein Wunschbild vom Tod beschrieb. Der Tod sollte je nach Autor leicht, schnell, schmerzlos oder rechtzeitig eintreten. Der Terminus "Euthanasie" wurde nicht in einem engeren medizinischen Kontext gebraucht und auch nicht im Zusammenhang mit Suiziden oder Tötung auf Verlangen. Konzis beschreibt Benzenhöfer die divergierenden Ansichten der Antike über die Berechtigung von Tötungen. Während Pythagoras und die älteren Pythagoreer diese aus religiösen Gründen ablehnten, ließ sich Platon vom "eugenischen" Vorgehen Spartas beeindrucken. Dort sollten von als zu alt angesehenen Männern gezeugte Kinder abgetrieben, oder im Falle der Geburt ausgesetzt werden. Geborene "Kinder der Schwächeren" traf somit dasselbe Schicksal wie "missgestaltete" Kinder. Platon erscheint bei Benzenhöfer als Propagandist der Nichtbehandlung Schwerkranker und einer begrenzt legitimierten Kindstötung; in Abgrenzung zu den Pythagoreern ist Platon kein Vertreter einer "respect for human life"-Ethik. Das staatspolitisch motivierte Denken Platons wurde in weiten Teilen auch von Aristoteles übernommen, der freilich in der Frage des Suizids strenger auftrat und diesen ablehnte.
Ähnlich deutlich beschreibt Benzenhöfer die in der antiken Medizin vertretenen Auffassungen. Als um 400 v. Chr. Ärzte getadelt wurden, die Todkranke nicht behandelten, traten auch Verteidiger auf: Nicht zuletzt aus Gründen des Reputationsschutzes müsse eine Therapieverweigerung erlaubt sein. Man dürfe von der medizinischen Kunst nicht mehr erwarten, als sie leisten könne. Dass es eine "Art der Palliativmedizin" gab, kann Benzenhöfer anhand mehrerer vorchristlicher Textstellen belegen (34). In der Interpretation des sogenannten Hippokratischen Eides folgt er weitgehend Ludwig Edelstein, indem er das Abtreibung, Tötung auf Verlangen und Beihilfe zur Selbsttötung einschließende Tötungsverbot auf pythagoreische Einflüsse zurückführt.
Wie schon in früheren Beiträgen findet Benzenhöfer freundliche Worte für Francis Bacon, der die Palliativmedizin zu fördern suchte, und wäscht Thomas Morus vom Vorwurf rein, ein frühneuzeitlicher Peter Singer zu sein. In dem Kapitel über die Stellung von Judentum und Christentum zur "Euthanasie" erreicht der Medizinhistoriker die Gegenwart. Insbesondere hier zeigt sich der Wert des Werks, auch im Vergleich zu einem 1999 unter ähnlichem Titel im Verlag C. H. Beck erschienenen Buch des Autors. So wird die jüngste israelische Gesetzgebung zur Therapiebegrenzung bei Sterbenden ebenso erörtert wie die für die aktuellen christlichen Patientenverfügungen grundlegende Erklärung "Gott ist ein Freund des Lebens" der evangelischen und der katholischen Kirche Deutschlands (1989).
Breiten Raum nehmen erwartungsgemäß die Vorgeschichte und die Darstellung der nationalsozialistischen "Euthanasie"-Verbrechen ein. Von Charles Darwin über Ernst Haeckel, Alexander Tille, Alfred Ploetz und Friedrich Nietzsche führt der Weg zu Karl Binding und Alfred Hoche, deren unheilvolle Schrift "Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens" (1920) ausführlich vorgestellt wird. Die Vernichtungsaktionen der Nationalsozialisten werden sehr detailliert und teilweise frühere Forschungsergebnisse revidierend beschrieben. Wer exakt wissen möchte, wer wann was veranlasst hat, wie beispielsweise die sogenannte "Kinder- und Jugendeuthanasie" oder die Aktion T 4 mit ihren mehr als 70.000 Toten durchgeführt wurden, findet hier Antworten. Dabei kennzeichnet Benzenhöfer genau die Grenzen zwischen gesichertem Wissen, plausiblen Spekulationen und den Feldern künftiger Forschung. Dies führt bisweilen zu stilistisch gewöhnungsbedürftigen Passagen, in denen der Autor in die erste Person wechselt, um unter anderem von eigenen Forschungsabenteuern zu berichten.
Besonders hilfreich für den Orientierung suchenden Leser sind die abschließenden Kapitel über die Diskussion um "Euthanasie" und Sterbehilfe im deutschsprachigen Raum nach 1945 sowie zur Situation in relevanten Vergleichsstaaten wie den Niederlanden, den USA, Australien (Peter Singer) und Großbritannien. Dabei scheut Benzenhöfer nicht das klare Urteil, beispielsweise wenn es um die gegenwärtige Situation in den Niederlanden geht. Dort sei die "Euthanasie" keine "Ausnahmetodesursache" mehr; von einer "Transparenz bzw. Kontrollierbarkeit" könne "nicht gesprochen" werden. Auffallend sei, dass eine "tiefenpsychologische Untersuchung" über die Folgen der "Euthanasie" für die Ärzte nicht durchgeführt werde, wohl weil ihre Ergebnisse weder Politikern noch Ärzten genehm sein könnten (173).
Ohne doktrinär zu wirken, ist das Buch ein klares Plädoyer gegen alle Versuche, das historische Argument aus den ethischen Debatten der Gegenwart über das Ende menschlichen Lebens herauszuhalten. Es ist angereichert um oft zitierte, aber selten in Gänze gelesene Dokumente wie den sogenannten "Hippokratischen Eid" und die Grundsätze der Bundesärztekammer zur ärztlichen Sterbebegleitung (2004). Ein Personenregister macht das Buch auch als Nachschlagewerk brauchbar.
Ralf Forsbach