Gisela Engel / Brita Rang / Susanne Scholz et al. (Hgg.): Konjunkturen der Höflichkeit in der Frühen Neuzeit (= Zeitsprünge. Forschungen zur Frühen Neuzeit; Bd. 13 Heft 3/4), Frankfurt/M.: Vittorio Klostermann 2009, 392 S., ISBN 978-3-465-04067-5, EUR 40,00
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Weit mehr als nur eine vordergründig erstarrt-starre und unflexible, der Tradition verhaftete soziale Norm meint Höflichkeit im menschlichen Miteinander das fragile und mit dem steten Zwang zur Aktualisierung verbundene Austarieren personaler Beziehungen nach Nähe und Distanz in allgemein verständlichen und akzeptierten, aber doch meist nur zeit- und ortsgebundenen, damit kulturell determiniert verstehbaren Regeln und Formeln zur Minimierung von Reibungsverlusten und kommunikativem Verschleiß (so bezeichnet Daniel Schläppi Höflichkeit am Beispiel der republikanisch verfassten Gemeinwesen der alten Eidgenossenschaft gar als "kommunikativen Kitt").
Und nicht von ungefähr offenbart schon allein der Begriff seine höfischen Wurzeln und gründet damit in einer Welt, in welcher sich der Platz des Einzelnen vor allem nach dem Abstand von den Anderen bestimmt, sichtbar nicht zuletzt gerade in den Formen der symbolischen Kommunikation, die Achtung, Respekt und Würde zugleich zuweist und einfordert, aber Kontakte auch über hierarchische oder kulturelle Schranken hinweg möglich macht (Daniel Dornhofer kann dies am frühneuzeitlichen schottischen Hof beobachten, Brita Rang am aufstiegsinteressierten Bürgertum um 1800, Robert Seidel anhand von frühneuzeitlichen Verhaltenslehren) - und damit eben nicht Täuschung und bloßer schöner Schein ist, wie beispielsweise Rousseaus kritische Äußerungen Höflichkeit abqualifizieren, sondern das genaue Gegenteil, wie Kant betont.
Brita Rang und Johannes Süßmann unterstreichen in ihrer überaus bedenkens- und lesenswerten Einleitung vor dem Hintergrund unter anderem dieser beiden Positionen richtig, dass ein normativ-wertendes Verständnis des Phänomens den Erkenntnishorizont nicht weite. Gefordert sei ein analytisches Vorgehen, das Höflichkeit als sinnvolles Handeln begreift, um "eine rationale Antwort auf konkrete historische, d.h. soziale, politische, kulturelle Problemlagen" (163) geben zu können. Die daraus abgeleitete Fragestellung, ausgehend von der Beobachtung des aktuellen Interesses an Höflichkeit, zielt folgerichtig darauf ab, zu untersuchen, worin das jeweilige Problem denn bestanden habe, das eine je spezifische Form von Höflichkeit abbilde. Denn deutlich wird ja besonders am Beispiel der Umgangsformen, die Höflichkeit transportieren, das Streben sozialer Systeme nach friedvoller Gestaltung von Begegnungen im sozialen Raum, wenngleich die Implikationen und Zielsetzungen vielfältigster Art sein können (so zeigt Giora Sternberg die Instrumentalisierung von Höflichkeit während der Zeit Ludwigs XIV. zur Lösung von Machtfragen, einer Höflichkeit, die mithin durchaus "unhöfliche" Ziele verfolgen konnte: "Are formules de politesses Always Polite?").
Schließlich ist in den Worten der Systemtheorie mit Höflichkeit nichts anderes gemeint als eine jener systemisch bestimmten Handlungsoptionen zur Reduktion von Umweltkomplexität, zur Überbrückung der Differenz zwischen System und Umwelt im Sinne des Erhalts der (Über-)Lebensfähigkeit des jeweiligen sozialen Zusammenhangs. Besonders evident wird das Erfordernis von Höflichkeit als eine jener stets aufs Neue auszuhandelnden Formen des sozialen Verkehrs in Anbetracht von sich rasch und massiv ändernden Umwelten, wahrgenommen als krisenhaftes Erleben, systemtheoretisch als Perturbation, Störung, zu fassen: "Höflichkeit als Reaktion auf produktive Alteritätserfahrungen." (167)
Damit mag sich auch die vermehrt zugemessene Bedeutung von Höflichkeit gerade in Zeiten tatsächlicher oder empfundener Instabilitäten erklären und lässt Höflichkeit als Indiz für beschleunigten sozialen Wandel, als Indikator von Krisen der "Zugehörigkeitsordnungen" (nach Thomas Macho), als Instrument zur Aufrechterhaltung von Sozialität (Aleida Assmann, die Respekt als Ausdruck moderner Höflichkeit bestimmt, hierin von Helmuth Lethen in seinem Beitrag zur "Anthropologie der Höflichkeit" unterstützt), als Mittel zur Kompensation von schwindender oder nicht vorhandener Gemeinsamkeit, Gleichartigkeit und Vertrautheit (Brita Rang, Johannes Süßmann) erscheinen.
Vor diesem Hintergrund lassen sich - in Anlehnung an Fernand Braudel - Konjunkturen der Höflichkeit beobachten, die Fragen sowohl nach deren Entstehung als auch nach den daraus sich entwickelnden je eigenen Höflichkeitsformen provozieren. Rang und Süßmann folgend sei eine erste Konjunktur an den um 1500 entstandenen Verhaltenslehren ablesbar, als sich hövescheit in der Frühen Neuzeit zur Höflichkeit wandelte. Um 1600 sei Höflichkeit als "Phänomen des [...] Späthumanismus" in Zeiten der Konfessionalisierung zu etwas Unselbstverständlichem, Residualem geworden (166), das Interesse an Höflichkeit habe aber um 1700 einen Höhepunkt erreicht, als höfische Gesellschaft, Frühaufklärung und politisch erfolgreiche städtische Oligarchien neuartige Formen der Höflichkeit hervorgebracht haben (167) (Ruth Florack und Rüdiger Singer zeigen dies am Konzept der Galanterie). Und ein "Ende der Höflichkeit" schien infolge der Französischen Revolution um 1800 erreicht, sei aber doch tatsächlich ein "Streitobjekt ersten Ranges" gewesen (167) (den Zusammenhang von Höflichkeit und Revolution untersucht Andreas Fahrmeir in seiner Studie) - zeitliche Schnittstellen als Arbeitshypothese, deren Tragfähigkeit sich aber in den einzelnen Beiträgen erweist.
Der vorliegende Band ist die Verschriftlichung einer international und interdisziplinär besetzten Konferenz, die im März 2008 am Zentrum zur Erforschung der Frühen Neuzeit der Frankfurter Goethe-Universität stattfand und die die häufig an ihren diskursiven Spuren ablesbare Höflichkeit und ihre Konjunkturen mit einem Rückgriff in die Römische Republik (Peter Scholz fragt nach "Humanitas als sozial distinguierender Verhaltensmodus der Senatsaristokratie") bis zur Aufklärung verfolgte. Das Tagungskonzept war nach Orten der Höflichkeit organisiert, verstanden als Räume verdichteter sozialer Interaktionen: Hof, Stadt und Republik, Universität, Reise, Tisch - Bett - Körper.
Der Band selbst behält diese Ordnung größtenteils bei, weist aber über die Raumorientierung hinaus auch eine chronologische Ausrichtung auf, wie auch der letzte Abschnitt zur "Höflichkeit auf dem Weg in die Zivilgesellschaft" mit einigen exemplarisch darstellenden Studien verdeutlicht (Rita Casale stellt eine Ethik der Konversation gegen eine Moral der Kommunikation, Michael Maase behandelt des Erasmus Unterweisung "Über den Umgang mit Menschen", Johannes Süßmann Formen der Höflichkeit in den französischen Religionskriegen, Miloš Vec schließlich bestimmt in rechtshistorischer Perspektive "Höflichkeit als Selbstgesetzgebung"). Die Untersuchungen zur "Höflichkeit auf Reisen und als diplomatische Aufgabe" von Dorothea Nolde, Sabine Schülting und Matthias Köhler zeigen wiederum die Möglichkeiten, aber auch die Grenzen höflichen Verhaltens gerade in den Kontaktzonen unterschiedlicher Sozialsysteme.
Leider wurden nicht alle Vorträge publiziert. Die Ausführungen Karl H. L. Welkers über Höflichkeit in humanistischer Korrespondenz - ein Thema, das aber auch von Elisabeth Stein aufgegriffen wird -, jene von Andreas Pečar über "Höflichkeit und Abstammung. Inklusion und Exklusion in der Sphäre des höfischen Adels am Beispiel Giacomo Casanovas" hätten das Bild sicher vervollständigt. Das Bild freilich, das gegeben wird, kann - natürlich - nicht alle Fragen beantworten und bietet auch keine allgemeine Theorie der Höflichkeit. Aber dieser Anspruch wird auch nicht erhoben, viel zu bescheiden sprechen die Herausgeber mehrfach von einem "Versuch". Geboten wird nämlich anregende, weitreichend weiterführende und richtungsweisende Forschung auf hohem Niveau in kohärentem Zusammenhang mit den Leitfragen. Dass neben der Höflichkeit auch die Unhöflichkeit Berücksichtigung findet, ist unter anderem dem Beitrag von Sebastian Kühn zu verdanken, der bei frühneuzeitlichen Gelehrten geradezu strategisch eingesetzte "Rituale der Unhöflichkeit" ausmacht - der eine oder andere mag auch hier einen (ungewollten) Aktualitätsbezug sehen. Dem Band ist die hohe Resonanz wünschen, die er verdient.
Jan Hirschbiegel