Rezension über:

Mathias Mesenhöller: Ständische Modernisierung. Der kurländische Ritterschaftsadel 1760-1830 (= Elitenwandel in der Moderne; Bd. 9), Berlin: Akademie Verlag 2009, 613 S., ISBN 978-3-05-004478-1, EUR 59,80
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Rezension von:
Monika Wienfort
Institut für Geschichte und Kunstgeschichte, Technische Universität, Berlin
Redaktionelle Betreuung:
Torsten Riotte
Empfohlene Zitierweise:
Monika Wienfort: Rezension von: Mathias Mesenhöller: Ständische Modernisierung. Der kurländische Ritterschaftsadel 1760-1830, Berlin: Akademie Verlag 2009, in: sehepunkte 10 (2010), Nr. 3 [15.03.2010], URL: https://www.sehepunkte.de
/2010/03/14713.html


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Mathias Mesenhöller: Ständische Modernisierung

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Der gesellschaftliche Wandel der "Sattelzeit" zwischen 1750 und 1850 ist in der europäischen Historiografie vornehmlich für West- und Mitteleuropa und mit dem besonderem Augenmerk auf staatlichem Handeln, als "Reform von oben", thematisiert worden. Um "Reformen von oben" handelt es sich in dieser Fallstudie ebenfalls, aber der Akzent liegt weniger auf dem Staat als auf der traditional-ständischen Elite der kurländischen Ritterschaft. Auf den ersten Blick verwundert, dass Mathias Mesenhöllers eindrucksvolle Hallenser Dissertation mit dem in den letzten Jahren eigentlich aus der Mode gekommenen Paradigma der Modernisierung arbeitet. Zu den Verdiensten des Buches gehört daher, die Dynamik eines Modernisierungsbegriffs zu betonen, dem es um Prozesse des Wandels, nicht um Stadien von Normativität geht. Am Beispiel einer ostmitteleuropäischen Elite zeigt die eindringliche Analyse einen spezifisch "modernen" Ideenhaushalt. Unter "Modernisierung" versteht der Verfasser ein Geflecht spezifischer Vorstellungen, die um Individualität im geschichtlichen Prozess, säkularen Geschichtsoptimismus und anthropologischen Universalismus kreisen. Die kurländischen Ritter liefern damit ein Beispiel, wie nicht gegen, sondern innerhalb eines ständisch-traditionalen Diskursrahmens Veränderung möglich wurde.

Mathias Mesenhöllers überaus anregende, Theorie und Empirie souverän verbindende Untersuchung betrachtet die Ostseeregion auf ihrem Weg vom Herzogtum zur Provinz im russischen Imperium und stellt dabei den deutschsprachigen Adel in den Mittelpunkt. Kurland wurde im 18. und frühen 19. Jahrhundert von weniger als einhundert adligen Familien dominiert. Hinzu traten eine deutschsprachige Stadtbevölkerung, der lutherische Klerus und die Letten als bäuerliche Leibeigene (bis zur Aufhebung der Leibeigenschaft 1817). Das ständische Herrschaftsmodell der Ritterschaft konkretisierte sich in wichtigen Privilegien. Aus dem Landbesitz ergab sich eine andere soziale Gruppen ausschließende Mitgliedschaft im Landtag und ein Ämtermonopol, das Regierungsämter und Richterstellen ausschließlich für Mitglieder des indigenen Adels reservierte.

Mesenhöller hat seine Studie chronologisch in drei große Abschnitte (Herzogtum, Krise des Ancien Regime und Imperialisierung unter russischer Herrschaft) unterteilt. Zusätzlich stellt ein umfangreicher Anhang Statistiken vor allem zum Güterbesitz des Adels zur Verfügung. Konsequent wird das Zusammenwirken von ökonomisch motivierten Gutsherrschaftsinteressen mit politisch-ständischer Rechtsbehauptung beobachtet. Im 18. Jahrhundert war das Herzogtum als "Adelsrepublik mit fürstlicher Spitze" in besonderer Weise von Konflikten zwischen dem Herzog und dem Adel geprägt. Dem Adel und seinen "ständischen Freiheiten" kam dabei die Stellung des Landes zwischen polnischen und russischen Interessen durchaus zugute. In den Zeiten der guten Agrarkonjunktur ging es dem Adel um "Bereicherung", vornehmlich in Gestalt einer Ertragssteigerung der Privatgüter, aber auch durch vermehrte Abgaben für die Untertanen. Besonders interessierte sich der Adel für die Pacht der Staatsgüter, die im Übrigen die Machtbasis des Herzogs darstellten.

Am Beispiel der Gutsgesetze, im Grunde gutsherrschaftlichen Polizeiordnungen, wird gezeigt, wie der Adel um 1800 den Wechsel von einer vornehmlich religiös geprägten Bezugswelt zu einer durch Vernunft beherrschten Ordnung vornahm. Der "Diskurs der Aufklärung" erhielt damit praktische Bedeutung über die Lebensgestaltung der Herrschenden hinaus. Dem kurländischen Adel kam entgegen, dass die Partizipationsforderungen der städtischen Bürgerschaft angesichts des multiethnischen und imperialen Aktionsraumes eher in Gestalt einer Ausweitung von politischen Privilegien als universell erhoben wurden. Im Kontext der polnischen Umsturzereignisse akzeptierte der kurländische Adel die institutionelle Einwirkung des russischen Staates. Aus der homogen konzipierten Herrenschicht wurden Eigentümer: Seit Beginn des 19. Jahrhunderts ließ sich eine zunehmende ökonomische Differenzierung im Adel beobachten. Der Anteil der Nicht- Grundbesitzer nahm zu. Auf der anderen Seite strebten reiche Mehrfachbesitzer die Konzentration von Landbesitz in den eigenen Händen an.

In den letzten Jahrzehnten des Untersuchungszeitraums intensivierte sich der Einfluss des russischen Imperiums. Die Entstehung eines einheitlicheren Raumes "baltische Ostseeprovinzen" in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kündigte sich an. Russen erhielten Indigenat und Landbesitz, die Leibeigenschaft wurde aufgehoben und die Kodifizierung ersetzte die traditionalen durch förmliche Verfahren. Bauerngemeinden und Gemeindegerichte hoben das administrative Monopol des Adels auf. Insgesamt wurde die Staatsunmittelbarkeit der bäuerlichen Untertanen hergestellt. Aus den Herrschaftsräumen der Güter wurden Wirtschaftsräume, und die adligen Herren mutierten zu Landwirten und Betriebsleitern. Die ökonomische Differenzierung der Herren übertrug sich auch auf die Bauern. Gutsituierte Pachtbauern schufen sich eine günstige Ausgangsposition für die Eigentumsregulierungen 1863. Auf der anderen Seite wuchs die Gruppe landloser Knechte und Tagelöhner. Die legendäre Gastfreundschaft und das Repräsentationsverlangen des Adels gingen zurück. Im Kreditverein verbanden sich Gutsherren und ökonomisch erfolgreiche Bauern. Adel und akademische Elite verfolgten ein Zivilisierungsprojekt für die lettische Bevölkerung, jedenfalls im Diskurs. In der Praxis scheiterten Schulgründungen bis in die zweite Hälfte des Jahrhunderts an der Finanzierung.

Mesenhöllers Besichtigung einer "ständischen Modernisierung" zeigt das Bild einer regionalen Elite, die im Umbau und unter Einbezug neuer Gruppen, im Grunde bis zur Russischen Revolution ihre Bedeutung behielt. Der kurländische Adel konnte unter dem Schutz des Imperiums "obenbleiben", als anderswo der Privilegien- und Grundeigentumsverlust bereits deutlicher hervortrat. Dafür war letztlich auch die Integrationsleistung verantwortlich, die der Adel mit Blick auf das Russische Reich erbrachte. Das Beispiel der kurländischen Ritterschaft lädt zu vergleichenden Überlegungen ein. Insofern leistet das Buch auch einen wichtigen methodischen Beitrag zur aktuellen Diskussion um Nationen und Imperien und orientiert sich konsequent an den Perspektiven einer europäischen Geschichtsschreibung. Mehr kann man sich von einer solchen Studie wohl kaum wünschen.

Monika Wienfort