Rezension über:

Michael North (Hg.): Kultureller Austausch. Bilanz und Perspektiven der Frühneuzeitforschung, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2009, VII + 432 S., ISBN 978-3-412-20333-7, EUR 49,90
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Rezension von:
Margrit Schulte Beerbühl
Historisches Seminar, Heinrich-Heine-Universität, Düsseldorf
Redaktionelle Betreuung:
Matthias Schnettger
Empfohlene Zitierweise:
Margrit Schulte Beerbühl: Rezension von: Michael North (Hg.): Kultureller Austausch. Bilanz und Perspektiven der Frühneuzeitforschung, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2009, in: sehepunkte 10 (2010), Nr. 4 [15.04.2010], URL: https://www.sehepunkte.de
/2010/04/15826.html


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Michael North (Hg.): Kultureller Austausch

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Der vorliegende, von Michael North herausgegebene Sammelband fasst die Vorträge der 2007 in Greifswald veranstalteten 7. Arbeitstagung der Arbeitsgemeinschaft Frühe Neuzeit zusammen. Er soll Bilanzen der Kulturtransferforschung der letzten dreißig Jahre ziehen und Perspektiven für die weitere Forschung eröffnen. Die insgesamt 26 Aufsätze verteilen sich auf sechs inhaltliche Abschnitte. Jeder Teil beginnt mit einem einleitenden Beitrag.

In der Einleitung gibt Michael North einen knappen, aber ausgezeichneten Überblick über die Entwicklungen der Kulturtransferforschung seit dem von Michael Werner und Michel Espagne in den 1980er Jahren entwickelten Konzept des "transfer culturel". Es hat seitdem eine erhebliche Erweiterung erfahren, u.a. durch Michael Werners und Bénédicte Zimmermanns Idee einer histoire croisée, die das bilaterale Transferkonzept zu einem multilateralen erweiterte, und auf angelsächsischer Seite durch Peter Burke, der auf die Selektion und den Wandel von Bedeutungsinhalten in der Zielkultur hinwies. Anstöße kamen auch von den postcolonial studies, die Transfer als Prozess der Verflechtung der entangled oder shared history verstehen.

Im ersten Teil "Kultureller Austausch theoretisch" werden von Wolfgang Schmale, Michael Werner und Peter Burke in sehr kurzen Beiträgen Fragen und Probleme aufgeworfen, die sich aus dem Konzept von Kulturtransfer als einem dynamischen Prozess ergeben. Während Wolfgang Schmale Geschichte als kontinuierlichen Fluss kultureller Austauschprozesse sieht und nach den Folgen einer Verflüssigung analytischer Kategorien wie Region, Nation oder Klasse fragt, setzt sich Michael Werner mit dem Vorwurf auseinander, die Transferforschung habe bisher Macht- und Herrschaftskonstellationen bei der Analyse von Austauschprozessen weitgehend unberücksichtigt gelassen. Peter Burke betrachtet den Begriff Transfer zur Beschreibung von Austauschprozessen als ungeeignet, da Informationen und Ideen nicht einseitig flössen. Er schlägt stattdessen den Begriff des kulturellen Austausches (cultural exchange) vor, weil es sich um Prozesse handele, bei denen Ideen, Informationen und Praktiken nicht einfach übernommen, sondern selektiert, dekontextualisiert und rekontextualisiert würden. Cornel Zwierlein befasst sich mit den Auswirkungen des spatial turn auf das Epochenkonzept der Frühneuzeitforschung und sieht im Konzept des Kulturtransfers eine Möglichkeit, die Dichotomie von räumlichen und zeitlichen Zugangsweisen zu überwinden, die in der Vergangenheit die Forschung stark geprägt haben. Martina Steer fordert eine stärkere Hinwendung der Jüdischen Geschichte zur Kulturtransferforschung, um zu einem differenzierten Bild sowohl der Beziehungen zwischen jüdischen und nichtjüdischen als auch der jüdischen Gemeinschaften selbst zu kommen.

Der zweite Teil des Bandes widmet sich dem kulturellen Austausch innerhalb der deutschen Nation. Ausgehend von dem ausgesprochen anregenden Beitrag von Georg Schmidt, in dem er die Frage nach dem Ablauf und der Konstituierung von kulturellem Austausch in einer konfessionell, politisch und landsmannschaftlich gespaltenen Nation aufwirft, befassen sich die nachfolgenden Autoren in Detailstudien mit diesem Problem: Die Beiträge von Matthias Asche zur Integration der Hugenotten, von Thomas Höpfer zur Verflechtung von Schulen und Universitäten zu Bildungslandschaften und Nicole Grochowina zum Nebeneinander unterschiedlicher Rechtssysteme im Alten Reich heben insbesondere die letzten beiden Beiträge in überzeugender Weise hervor, dass die Pluralität im frühneuzeitlichen Deutschland zum "Aushandeln von Uneindeutigkeiten und konsensualen Lösungen" zwang.

Auch Herrschaftsvermittlung bei der es um Wertevermittlung ging, war kein einseitiger Prozess von oben nach unten, sondern wurde ausgehandelt, wie die Beiträge von Stefan Brakensiek, Karin Gottschalk, Boguslav Dyba und Andras Vari sowie der Kommentar von Heiko Droste im nachfolgenden Teil "Herrschaftsvermittlung als kultureller Austausch" aufzeigen. Wie Karin Gottschalk am Beispiel der Lokalverwaltung in Hessen-Kassel hervorhebt, veränderten sich Vermittler und Adressaten zugleich unter dem Einfluss neuer Verwaltungsstrukturen. Fälle von gescheiterter Herrschaftsvermittlung sind dabei wie keineswegs als fehlgeschlagene Transferprozesse zu interpretieren.

Der nachfolgende, von Wolfgang E.J. Weber eingeleitete Teil "Kommunikation professionellen Wissens" macht vor allem auf die Schwierigkeiten aufmerksam, Diffusions- und Austauschprozesse von Wissen auf der Basis überlieferter schriftlicher Zeugnisse oder in der Architektur (Stefan Paulus) zu rekonstruieren. Am Beispiel eines Textes von Mondino weist Hans Uwe Lammel auf, dass dieser mit dem Neudruck durch den Rostocker Drucker Nicolaus Marschalk zwei Jahrhunderte später eine erhebliche Umdeutung erfuhr. Wissen, das oberdeutsche Kaufleute im Verlaufe ihrer Aus- und Weiterbildung im Ausland erwarben, schlug sich, so Mark Häberlein, nicht immer in den verfassten Handelspraktiken nieder, oder es war bei der schriftlichen Fixierung bereits veraltet.

Für Dagmar Freist, die den Abschnitt über "Netzwerke des transnationalen Kulturtransfers" einleitet, lassen sich Dynamiken des kulturellen Austausches vor allem durch die Analyse der zugrunde liegenden Netzwerke ermitteln. Am Beispiel des frühneuzeitlichen Buchhandels analysiert Marika Keblusek Selektionsprozesse bei der Auswahl von Büchern, wobei es nicht allein wichtig sei, die Agenten in das Blickfeld des Austauschprozesses zu nehmen, sondern auch das durch Kaufleute bereitgestellte logistische Netzwerk. Am Beispiel einer Stockholmer Gruppe von international verflochtenen westeuropäischen und einheimischen Großhändlern analysiert Klas Nyberg den Kulturschub und die Öffnung des schwedischen Marktes für europäische Konsumgüter. Kim Siebenbürger dagegen beschreibt die wechselseitigen Abhängigkeiten einer kleinen, eng vernetzten Gruppe von Edelsteinhändlern, Diamantenschleifern, Goldschmieden und Minenbetreibern.

Beschäftigten sich die zuvor genannten Beiträge mit Austauschprozessen vor allem im europäischen Raum, so wendet sich der letzte Teil dem kulturellen Austausch zwischen Europa und der außereuropäischen Welt zu. Durch die räumliche wie kulturelle Distanz treten nach Ansicht von Renate Pieper wechselseitige Einflüsse am sichtbarsten hervor. So weisen Mark Meadow am Beispiels eines anonymen Hochzeitsgemäldes und Horst Pietschmann anhand von Wand- und Altarbildern auf die Gemengelage von indianischen Kulturelementen mit europäischen und alttestamentarischen hin. Über die transnationalen Handelsbeziehungen stellten, so Markus Neuwirth, Handwerker in Afrika und Amerika auch Kunstwerke und Möbel direkt im Auftrag europäischer Kunden her. Während in der Frühphase der Kolonialisierung die europäischen Kaufleute an der Koromandelküste sich noch den indischen Wohnverhältnissen und Lebensgewohnheiten angepasst hatten, fand, wie Martin Krieger in seinem Beitrag darlegt, im Zuge der territorialen Expansion Großbritanniens eine Übernahme der europäischen Wohnkultur auf dem indischen Subkontinent statt.

Mit dem Sammelband ist es dem Herausgeber und den Autoren gelungen, mit dem alten Bild eines einseitigen Kulturtransfers von starken zum schwächeren Partner endgültig zu brechen. Auch wenn einige der Beiträge äußerst knapp sind, so bieten die zahlreichen Detailstudien nicht nur einen breiten Überblick über die jüngere Kulturtransferforschung, sondern machen auch die Vielschichtigkeit von Austauschprozessen sehr deutlich. Zugleich werden eine Reihe von spannenden Fragen aufgeworfen, die zu weiteren Forschungen Anregungen geben. Für jeden der sich einen Überblick über die jüngsten Ergebnisse der Transferforschung verschaffen möchte, ist der vorliegende Tagungsband sehr zu empfehlen.

Margrit Schulte Beerbühl