Katrin Hammerstein / Ulrich Mählert / Julie Trappe et al. (Hgg.): Aufarbeitung der Diktatur - Diktat der Aufarbeitung? Normierungsprozesse beim Umgang mit diktatorischer Vergangenheit (= Diktaturen und ihre Überwindung im 20. und 21. Jahrhundert; Bd. 2), Göttingen: Wallstein 2009, 323 S., ISBN 978-3-8353-0440-6, EUR 32,00
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Erinnerungs- und Gedächtniskulturen, Geschichts- und Vergangenheitspolitiken beschäftigen die Forschung nun schon seit geraumer Zeit - und noch immer ist kein Abflauen des Interesses bemerkbar. Vielmehr zeichnet sich jüngst eine Erweiterung und Verlagerung des Fokus ab: weg von national begrenzten Studien, hin zu transnational-vergleichenden Arbeiten; weg von einer Fixierung auf die Erinnerung an NS-Verbrechen und den Zweiten Weltkrieg, hin zu anderen europäischen, aber auch außereuropäischen Beispielen. Die Vielzahl der bisherigen Arbeiten bildet eine solide Grundlage für die Ausweitung des Themas. In Anbetracht einer allgemeinen Erweiterung des historischen Blicks auf europäische und globale Geschichte, auf transnationale Entwicklungen und Vergleiche kann dies nur wenig überraschen und erscheint durchaus konsequent und logisch.
Diese neuen Forschungsperspektiven reagieren freilich nur auf eine Reihe sozialer, politischer, wirtschaftlicher und kultureller Prozesse, die vor unser aller Augen ablaufen und die zusammenfassend normalerweise als Europäisierung und Globalisierung beschrieben werden. Davon sind mittlerweile auch die Erinnerungskulturen und Gedächtnispolitiken erfasst worden, die inzwischen ohne ihre transnationale Verschränkung und Verknüpfung gar nicht mehr zu verstehen und zu analysieren sind. Zunehmend treten neue transnationale Akteure auf den Plan. Paradigmatisch für diese Entwicklungen ist wiederum die Holocaust-Erinnerung: Mit der Stockholm-Konferenz im Januar 2000 ist sie auf eine neue symbolische und realpolitische Ebene gehoben worden. Die Anerkennung des Holocaust als paradigmatisches Menschheitsverbrechen und gegebenenfalls eigener Komplizenschaft mit den NS-Verbrechen ist ebenso wie die Position in Menschenrechtsfragen oder die Aufarbeitung eigener traumatischer und konfliktiver Vergangenheiten zum "entré billet" zur westlichen Welt geworden. Die EU hat sich der Holocaust-Erinnerung ebenso angenommen wie die UNO. Die "Task Force for International Cooperation on Holocaust Education, Remembrance and Research" versucht die Erinnerung an den Holocaust weltweit zu institutionalisieren und zu standardisieren.
Dem Holocaust wird inzwischen universale Gültigkeit beigemessen, jenseits von Deutschen als Tätern und Juden als Opfern. Deutschlands Aufarbeitung seiner eigenen Vergangenheit gilt währenddessen (trotz aller anfänglicher Ambivalenzen, Widersprüche und Unzulänglichkeiten) international als mustergültig und vorbildlich - eine durchaus überraschende Pointe, wenn gleichzeitig der Gegenstand der Aufarbeitung als größtes Menschheitsverbrechen der Geschichte gilt. Der britische Historiker Timothy Garton Ash hatte schon vor einigen Jahren zugespitzt-ironisch, aber durchaus treffend von einer DIN-Norm für "Vergangenheitsbewältigung" (ein signifikanterweise in andere Sprachen unübersetzbarer Ausdruck) gesprochen. Auch innerhalb Deutschlands selbst wurde die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit - bzw. die Lehren aus deren mittlerweile diagnostizierten Defiziten - zum Vorbild und Muster für die Auseinandersetzung mit der sogenannten zweiten deutschen Diktatur.
Diese Entwicklungen nimmt der von Edgar Wolfrum gemeinsam mit Katrin Hammerstein, Ulrich Mählert und Julie Trappe herausgegebene Sammelband Aufarbeitung der Diktatur - Diktat der Aufarbeitung? in den Blick, hervorgehend aus einer gleichnamigen Tagung in Heidelberg im September 2007. In fünf Abschnitten werden unterschiedliche Aspekte und Ebenen beleuchtet. Der Schwerpunkt liegt dabei, wie der Titel verrät, auf der Aufarbeitung von Diktaturen und ihren Verbrechen (und nicht in jedem Fall Genoziden) und, was der Titel nicht deutlich macht, auf Europa (obwohl es zahlreiche außereuropäische Beispiele geben würde), wo sich in den letzten Jahren eine Konkurrenz zwischen der Erinnerung an das "Dritte Reich", deutsche Besatzung und die NS-Vernichtungspolitik auf der einen Seite und an Kommunismus, Stalinismus und den Gulag auf der anderen Seite etabliert hat.
Nach einer knappen Einleitung, die einen guten Überblick über das Thema und seine verschiedenen Aspekte bietet und bereits die Problematiken von Universalisierungs- und Normierungsprozessen anspricht, fokussiert der erste Teil zunächst einmal die innerdeutsche Entwicklung. Christoph Cornelissen, Bernd Faulenbach, Michael Beleites und Alfons Kenkmann analysieren darin die bundesdeutsche Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit sowie die Zusammenhänge und Konkurrenzen zwischen dieser und dem Umgang mit dem DDR-Regime nach 1989. Trotz der Vorbildfunktion der ersten für die zweite "Vergangenheitsbewältigung" ist es inzwischen durchaus zu einer Frontstellung der Aufarbeitung des NS- und des SED-Unrechts gegeneinander gekommen. Wie diese "Zweigleisigkeit des Erinnerns", wie Wolfgang Benz sie genannt hat, beendet werden und was an ihre Stelle treten kann, ist freilich weiterhin unklar.
Im zweiten Abschnitt stellen sich Micha Brumlik, Dorota Dakowska, Claudia Kraft und Ulrike Jureit die Frage, inwieweit sich eine Norm für die Aufarbeitung von Diktaturen etabliert hat. Die hier untersuchten Beispiele von Polen und Spanien machen jedoch vor allem deutlich, dass trotz offensichtlicher Anlehnungen und Bezugnahmen die Existenz einer DIN-Norm und damit eines uniformierten, übertragbaren Verfahrens kaum nachgewiesen werden kann - und normativ wohl auch nicht wünschenswert wäre. Zu unterschiedlich sind die nationalen Einzelfälle und zu irreführend und naiv ist die Vorstellung der Aufarbeitung problematischer Vergangenheiten als eines gradlinigen Prozesses, hin zu immer größerer Aufklärung. Ulrike Jureit geht in ihrem Beitrag währenddessen den Obsessionen der deutschen Erinnerungskultur und den Schattenseiten ihrer normativen Identifikation mit den Opfern nach.
Julia Trappe, Koffi Kumelio A. Afande, Christine Axer und Xosé-Manoel Núñez beschäftigen sich in einem weiteren Teil mit Akteuren der Aufarbeitung. Strafrechtliche Untersuchungskommissionen werden dabei ebenso beleuchtet wie die sogenannten "lois mémorielles", die seit Beginn der 1990er-Jahre vom französischen Parlament verabschiedet worden sind und die Erinnerung an bestimmte historische Ereignisse per Gesetz zu normieren und abzusichern versuchen, und die Rolle von Zivilgesellschaft und Historikern bei der jüngst belebten Auseinandersetzung mit der Franco-Diktatur in Spanien.
Der vierte Abschnitt widmet sich mit Beiträgen von Michael Weigl, Katrin Hammerstein / Birgit Hofmann, Jens Kroh und Milan Horáček spezifisch EU-europäischen Politiken, vor allem den Versuchen, eine gemeinsame europäische Identität durch eine standardisierte Vergangenheits- und Erinnerungspolitik zu konstruieren. Wie sich beispielhaft an der Stockholmer "Holocaust-Konferenz" im Januar 2000 und den Sanktionen der "EU 14" gegen eine Regierungsbeteiligung der rechtspopulistischen Freiheitlichen Partei Jörg Haiders in Österreich zeigt, kann dies auch durchaus sehr konkrete politische Folgen in der Gegenwart haben. Die Verwerfungen europäischer Gedächtniskultur sind auch Gegenstand des fünften Teils mit Texten von Stefan Troebst, Regina Fritz / Katja Wetzel, Anna Kaminsky und Burkhard Olschowsky. Die abweichenden Deutungen des Erinnerungsorts "1945" in verschiedenen europäischen Regionen sind hier ebenso Gegenstand wie die Erinnerungskonkurrenzen zwischen den zwei Totalitarismen in Ländern wie Lettland und Ungarn.
Abschließend dokumentiert der Band noch den Eröffnungsvortrag zur Konferenz von Günter Nooke, dem ehemaligen DDR-Oppositionellen und jetzigen Beauftragten der Bundesregierung für Menschenrechtspolitik und Humanitäre Hilfe, sowie zwei Podiumsdiskussionen zur Frage der Modellhaftigkeit der deutschen "Vergangenheitsbewältigung" und Normierungstendenzen beim Umgang mit verbrecherischen Vergangenheiten.
Außereuropäische Vergleiche hätten ein solches Publikationsprojekt sicher bereichert, zugleich aber wohl auch überfordert und gesprengt. Natürlich bleiben viele Fragen offen. Der Band selbst überzeugt aber nicht nur durch seine durchgängig guten Einzelbeiträge, sondern ist auch insgesamt schlüssig und sinnvoll komponiert. Dabei ist er keinesfalls immer widerspruchsfrei, etwa im Abschnitt über die EU und europäische Identitätspolitik - was jedoch nur ein sichtbares Zeichen der Tatsache ist, dass es sich hier keinesfalls um erkaltete Geschichte, sondern vielmehr um "history in the making" handelt. Wer diese gegenwärtigen Prozesse und Debatten, die nicht zuletzt für EU-Europa von zentraler Bedeutung sind, verstehen und sich einen Überblick über aktuelle Forschungen zum Thema verschaffen will, wird an diesem Sammelband nicht vorbeikommen.
Dirk Rupnow