Thomas Mann: Betrachtungen eines Unpolitischen (= Große kommentierte Frankfurter Ausgabe; 13), Frankfurt a.M.: S. Fischer 2009, 2 Bde. 645 S. + 783 S., ISBN 978-3-10-048348-5, EUR 80,00
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Die Betrachtungen eines Unpolitischen, die jetzt im Rahmen der Großen kommentierten Frankfurter Ausgabe der Werke Thomas Manns neu ediert und mit einem Kommentarband von Hermann Kurzke versehen wurden, sind nicht allein aus literarischer, sondern auch aus kulturgeschichtlicher Perspektive interessant. Das liegt zum einen am Zeitpunkt ihrer Entstehung, zum anderen an den Umständen, unter denen sie geschrieben wurden.
Die Erstausgabe erschien im Frühjahr 1918, als das Ende des Krieges für die meisten Deutschen - darunter auch Thomas Mann - noch nicht absehbar war. Gerade erst hatte der Erfolgsautor der Buddenbrooks seine ansehnliche Bad Tölzer Landresidenz gegen Kriegsanleihen eingetauscht; eine Fehlinvestition, wie sich rasch herausstellte, der der "hartnäckige Villenbesitzer" - so hatte ihn sein Kollege Hermann Kesten einmal halb im Spott, halb neiderfüllt tituliert - noch Jahre später, längst Eigentümer eines neuen Landhauses, nachtrauerte. Politische Hellsicht war, zumindest zu diesem Zeitpunkt, seine Sache nicht. Anders als sein Bruder Heinrich, dessen "Untertan" geschrieben war, jedoch aufgrund der Ereignisse nicht erscheinen konnte, hatte sich Thomas Mann im Sommer 1914, wie so viele seiner Kollegen, als ein Kind seiner Zeit erwiesen. Zum Einsatz an der Waffe nicht zu gebrauchen, versuchte er das Vaterland an der publizistischen Heimatfront zu unterstützen, wofür er sogar die Arbeit am Zauberberg unterbrach. Später waren ihm die in dieser Zeit erschienenen Essays peinlich, weswegen er noch zu Lebzeiten dafür sorgte, dass sie nicht in sein Gesamtwerk aufgenommen wurden. Erst nach seinem Tod wurde diese Lücke geschlossen.
Die Betrachtungen sind zweifellos das bemerkenswerteste Resultat dieser Schaffensphase. In ihnen schrieb sich Thomas Mann sämtliche historisch-politischen, künstlerlisch-ästhetischen Glaubensgrundsätze von der Seele, nicht ahnend, dass das Zeitalter, dem sie entstammten und das sie beschrieben, die Welt von gestern war. Das freilich war zum damaligen Zeitpunkt nur einigen wenigen Zeitgenossen bewusst - Thomas Mann zählte nicht zu ihnen.
Kurz vor ihrem Tod hat Katia Mann in einem Interview darauf hingewiesen, dass die Betrachtungen ohne den Einfluss des Bruders Heinrich wohl nie geschrieben worden wären. Ob das zutrifft, lässt sich nicht mehr überprüfen. Doch sind die Betrachtungen in der Tat Thomas Manns persönlichstes Buch. Zumal der Adressat nur vordergründig die deutsche Nation war; in Wahrheit findet sich auf beinahe jeder der rund 600 Seiten ein Angriff auf den älteren Bruder. Hermann Kurzkes akribische Anmerkungen zum Text - der Kommentarband ist umfangreicher als die Betrachtungen selbst - verdeutlichen dies.
Heinrich Mann wiederum hatte in den zwei Jahrzehnten vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges eine erstaunliche politische Entwicklung durchlaufen. Zwischen April 1895 und Dezember 1896 fungierte er als Herausgeber einer radikal-antisemitischen Zeitschrift mit dem Titel Das zwanzigste Jahrhundert, für die er rund 50 Artikel verfasste, 33 davon unter seinem eigenen Namen. Bereits wenige Jahre später jedoch hatte er sich davon freigemacht und 1905 in einem Essay Flaubert mit dem Satz zitiert: "Der Krieg ist eine Schande, unter der ein Kulturmensch erbebt." Das blieb auch 1914 seine Leitlinie, als der Hurra-Patriotismus und die Kriegsbegeisterung die meisten Intellektuellen - den Bruder eingeschlossen - ergriff. Wenige Wochen nach Ausbruch des Krieges, im November 1914, veröffentlichte Thomas Mann seine Gedanken im Krieg, ein erstes eifriges, fast agitatorisches Bekenntnis zu Deutschland und zugleich eine Speerspitze gegen Heinrich. Unter anderem stellte der Autor darin - ein Grundmotiv der Betrachtungen vorwegnehmend - dem politischen Volk der Franzosen die Deutschen als das moralische (unpolitische) Volk gegenüber. Als nur einen Monat später die historiche Parallele "Friedrich und die Große Koalition" erschien, reagierte Heinrich Mann mit seinem - mittlerweile berühmten - Essay über den französischen Schriftsteller und Publizisten Émile Zola. Und obwohl er darin mit keinem Wort auf die aktuellen politischen Ereignisse einging, war doch klar, was mit Sätzen wie "Niemand glaubt im Grunde an das Kaiserreich, für das man doch siegen soll" gemeint war: Nicht das Second Empire, sondern die deutsche Monarchie, die es zu überwinden galt, denn, so Heinrich Mann weiter: "Demokratie [...] ist ein Geschenk der Niederlage." In anderen Worten: Wer die Republik will, muss Deutschlands Niederlage wollen. Heinrich Mann hat dies 1915 als einer der ersten erkannt. Das grenzte freilich an Defätismus. Der Zola-Essay führte zum Bruch zwischen den Brüdern und veranlasste Thomas Mann zur Niederschrift der Betrachtungen.
Es waren jedoch nicht so sehr die defätistischen Anklänge, als vielmehr die kaum versteckten persönlichen Schmähungen, die Thomas Mann bei der Lektüre des Zola-Essay in Rage versetzt hatten. Dort fand er Formulierungen wie: "Durch Streberei Nationaldichter werden für ein halbes Menschenalter, wenn der Atem so lange aushält; unbedingt aber mitrennen, immer anfeuernd, vor Hochgefühl von Sinnen, verantwortungslos für die heranwachsende Katastrophe und übrigens unwissend über sie wie der Letzte!". ("Im Vorübergehen Säure ins Gesicht schütten", nannte Thomas Mann das später einmal.)
Der Hass machte Thomas Mann produktiv. Alle Vorbehalte, alle Kritik an seinem Bruder türmte er zu einem gewaltigen "Anti-Heinrich"-Essay. Und obwohl der Bruder in den Betrachtungen an keiner Stelle namentlich erwähnt wird, ist er doch fortwährend gegenwärtig, wird zum Teil sogar wörtlich zitiert. Denn als "Zivilisationsliterat" - der Begriff taucht rund 200 Mal auf -, "Busen-Rhetor", "Boulevardmoralist" und "Menscheitsschmeichler" symbolisierter er in den Augen Thomas Manns wie kein Zweiter die Zivilisation und Demokratie des französischen Erbfeindes, die es zu bekämpfen galt. "Was", fragte er, "lebt unser belle-lettres-Aktivist uns eigentlich vor? Glaubt er im Ernst, dass fuchtelnde Revolutionsliteratentum [...] werde irgendwann einmal deutsch heißen?" Und weiter: "Ob ich das Vaterland liebe oder nicht: ich bin es selbst!" Mit all dem, wie er es nannte, "Unfug" der "Politisierung, Literarisierung, Intellektualisierung, Radikalisierung Deutschlands", kurzum, an seiner "Vermenschlichung im lateinisch-politischen Sinne", wollte Thomas Mann nichts zu tun haben. Auch wenn er die Vokabel nicht in den Mund nahm, war der Vorwurf, den er dem Bruder machte, kein geringerer als der des geistigen Landesverrats. Kein Wunder, dass sich der Autor, der nach 1933 zu einem der engagiertesten Kritiker des nationalsozialistischen Deutschlands im Exil wurde, an solche Sätze später nur noch ungern erinnerte; sie waren damals grober Unfug, und sind es noch heute. Das gilt auch für die ausdrückliche Billigung der Versenkung der Lusitania, bei der im Mai 1915 rund 1.200 Zivilisten ums Leben gekommen waren.
Im Grunde seines Herzens wusste Thomas Mann das wohl selbst; wie sonst ließe sich erklären, dass er sich im Frühjahr 1918 - nachdem ihn 1916 bereits eine dubiose "Nervenkrise" mehrere Wochen ans Bett gefesselt hatte - brieflich an seinen Verleger wandte, mit der Bitte, die Betrachtungen zurückzuziehen. Dass Samuel Fischer dem nicht nachkam, kann aus verlegerischer Sicht nicht überraschen: Die Vorbestellungen der Buchhändler waren enorm. In den zwei Jahren nach 1918 verkauften sich die Betrachtungen rund 20.000 Mal.
Was also bringt es, die Betrachtungen heute, gut 90 Jahre nach ihrem erscheinen, wieder zur Hand zu nehmen? Ein stilistisches Lesevergnügen, wie manche Feuilletonisten gejubelt haben, sind sie sicherlich nicht; schon der Inhalt macht dies unmöglich. Auch bietet die Lektüre nur bedingt einen Einblick in die Gedankenwelt ihrer Zeit; denn es wäre schlichtweg vermessen, den intellektuellen Ästhetizismus eines Thomas Mann mit dem Geist seiner Epoche gleichzusetzen; allenfalls ließe sich aufzeigen, wie umfassend der nationalistische Chauvinismus jener Jahre das Denken des Autors in dieser Zeit bestimmte. In der Summe sind die Betrachtungen somit in erster Linie ein eindrucksvolles Egodokument Thomas Manns, ein Manifest seiner Geisteshaltung der Jahre 1914 bis 1918. Zu verdanken ist das nicht zuletzt dem Herausgeber, Hermann Kurzke, der in seiner exzellenten Kommentierung selbst den entlegensten Bezügen und Querverbindungen auf den Grund geht.
Florian Keisinger