Rezension über:

Andreas Eckert: Herrschen und Verwalten. Afrikanische Bürokraten, staatliche Ordnung und Politik in Tanzania, 1920-1970 (= Studien zur Internationalen Geschichte; Bd. 16), München: Oldenbourg 2007, 313 S., ISBN 978-3-486-57906-2, EUR 49,80
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Rezension von:
Mamadou Diawara
Institut für Ethnologie, Goethe-Universität, Frankfurt/M.
Redaktionelle Betreuung:
Andreas Fahrmeir
Empfohlene Zitierweise:
Mamadou Diawara: Rezension von: Andreas Eckert: Herrschen und Verwalten. Afrikanische Bürokraten, staatliche Ordnung und Politik in Tanzania, 1920-1970, München: Oldenbourg 2007, in: sehepunkte 10 (2010), Nr. 5 [15.05.2010], URL: https://www.sehepunkte.de
/2010/05/12516.html


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Andreas Eckert: Herrschen und Verwalten

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In seinem schönen, gut dokumentierten Buch stellt Andreas Eckert die zentrale Frage: "Was wissen wir überhaupt von jenen Afrikanern, die in der Zwischenkriegszeit in der Verwaltung Dienst taten?" Und gibt gleich darauf eine Antwort: "Nicht viel."

Am Anfang steht eine klare Aussage: "Die Epoche des Nationalstaates neigt sich dem Ende zu", nachdem ethnische Konflikte das Herz Europas erreicht haben (1). Eckert liefert einen Überblick über die Situation des Staates in Afrika und stellt die These auf, "dass trotz allen Katastrophen sich eine neue Gesellschaft konstituiert." In einer beispielhaften Studie, die darauf verzichtet, die afrikanische Realität zu exotisieren und auf einer dichten Bearbeitung des empirischen Materials gründet, liefert der Autor eine glänzende Synthese, die Herrschaft und Bürokratie, den kolonialen Staat, den Kolonialismus, die "cultural brokers" sowie die Kontinuität zwischen prä-kolonialem und post-kolonialem Staat in Tanzania behandelt.

Eckerts sorgfältiges Résumé des Forschungsstands umfasst die Stärken und Schwächen der wichtigsten Thesen. Besonderes Interesse schenkt er den Kritiken der Politologen am afrikanischen Staat. Im Gegensatz zu Jean-François Bayart, der sich von einer Geschichte der Institutionen radikal ab- und der Praxis der Herrschenden zuwendet, analysiert Eckert das Zusammenspiel der gesellschaftlichen Kräfte. Dazu beschreibt er die Rolle der afrikanischen Bürokraten, die sich als "cultural brokers" im Spannungsfeld lokaler Herrschaftstraditionen, islamischer und christlicher Normen, der westlichen "Erziehungs-Bürokratie" und Modernisierungsideologien bewegen. Besonders spannend ist der Bezug auf Analysen bürokratischer und / oder städtischer Eliten, wie sie in der Historiografie Lateinamerikas zu finden sind.

Das chronologisch aufgebaute Buch besteht aus fünf Kapiteln. Die ersten beiden behandeln die Zeit zwischen 1920 und 1940 und thematisieren den Widerspruch zwischen dem Anspruch der Kolonialherren, wirtschaftlich autonome und kulturell homogene Inseln mit einem Oberhaupt oder Chief zu schaffen und dem Streben der Bürokraten nach ökonomischer Effektivität.

In nur 30 Jahren führte die deutsche Herrschaft zu festen Grenzen und einem staatlichen Gewaltmonopol. Die Deutschen waren jedoch nicht die ersten Herrscher. Sie suchten oder erzwangen die Zusammenarbeit mit einheimischen Autoritäten und gingen Allianzen mit dem islamischen Establishment ein. Die Bemühungen der deutschen Kolonisatoren umfasste drei Phasen, die Trutz von Trotha am Beispiel Togos wie folgt benennt: Terror, Sesshaftwerdung der Macht und die Ausbildung einer bürokratischen Herrschaft.

1916 übernahmen die Briten die deutsche Kolonie und führten "indirect rule" ein. Diese Bemühungen wurden ab 1925 intensiviert, als mit David Cameron ein erfahrener Gouverneur von Nigeria nach Tanganyika kam. Die Vorteile der "indirect rule" waren laut der britischen Verwaltung eindeutig, galt es doch die Ansprüche von Proto-Nationalisten einzudämmen. Um "indirect rule" umzusetzen, erdachte Cameron drei Kriterien für die Ernennung von Chiefs: persönliche Fähigkeiten, "traditionelle", erbliche Ansprüche und der Wille des Volkes. Natürlich wurden diese oft ignoriert. So wurden die in der deutschen Kolonialverwaltung eingesetzten ortsfremden Akiden den Chiefs gleichgestellt. Die Suche nach Chiefs erfolgte nach dem Motto "Findet den Häuptling", durch eine "Erfindung von Tradition", indem die Kolonialherren "Stammesgeschichten" und "Genealogien" sammelten. So gelang es zahlreichen "Köchen" und "Boys", Chief zu werden, wohingegen viele lokale Stammeshäuptlinge leer ausgingen.

In Eckerts akribischer Beschreibung des Erziehungswesens wird der Faktor Zeit / Uhr herausgestellt. Die Zeit konnte Machtquelle für 'Herrschende' ebenso wie für 'Beherrschte' sein. Dies hatte auch eine große Bedeutung für andere koloniale Gebiete im Britischen Empire wie Indien, aber auch in den französischen Kolonien, wie am Beispiel des Soudan Français deutlich wird.

Nach einer sorgfältigen Analyse der britischen Bürokratie widmet sich der Autor den afrikanischen Bürokraten. Er nähert sich dem Leben Martin Kayanbas, das gut in den Archiven dokumentiert ist. Es ergibt sich das Bild eines unkritischen, postkolonialen Karrieristen. Dazu hätte man gern in einem anderen Buch mehr über die Rezeption des Mannes in seiner Community, seinem Dorf, seinem Land erfahren.

Im dritten Kapitel (1940-1960) skizziert der Autor die Transformation des Diskurses um den Kolonialstaat. Ende der Dreißigerjahre brach die Utopie des Kolonialismus zusammen. "Indirect rule" war nicht geeignet, die Probleme Tanganyikas zu bewältigen. Die Labour-Regierung in London war nun bestrebt, mit gebildeten Afrikanern zusammenarbeiten, um die Dekolonisation vorzubereiten. Afrikanische Universitätsstudenten sollten mit der englischen Oberklasse Tee trinken, um das zukünftige Führungspersonal zu stellen. Diese Intentionen Londons trafen in der Kolonialregierung und manchen Distriktbeamten auf Widerstand (98). Hier liefert Eckert eine wichtige Parallele zu den "évolués" in den französischen Kolonien. Dennoch generierte der Modernisierungsdruck eine afrikanische Bürokratie. Mit Ausbruch des Zweiten Weltkriegs kamen diese Reformbemühungen zu einem Ende. England ließ sich von über einer halben Million kolonialer Soldaten verteidigen und verlor zunehmend an Glaubwürdigkeit gegenüber seinen afrikanischen Untertanen (99).

Eckert stellt meisterhaft dar, wie das Britische Empire zum Juniorpartner der USA wird. Trotz aller Bemühungen blieb die Vision des Kolonialministers Creech-Jones, eine "demokratische Verwaltungsreform" einzuführen, kaum realisierbar. Die koloniale Entwicklungspolitik blieb experimentell und zum Scheitern verurteilt. Eckert beschreibt die Karriere des Begriffs "Entwicklung", die "in und für, aber nur sehr bedingt mit Afrika getan werden musste." (102) Nach dem Zweiten Weltkrieg setzte das Colonial Office auf die Rhetorik der "Wohlfahrt" und "Entwicklung".

Eckert zeigt minutiös, wie "Entwicklungsexperten" die Kolonie gegen den Willen vieler Kolonialbeamter aufwerten wollten, die an die Aufrechterhaltung einer "stabilen tribalen Ordnung" glaubten. Aber London drängte, weil Tanganyika kein "Museum oder Menschen-Zoo" werden sollte (113). Nicht ohne Hindernisse wurde ab 1950 verstärkt auf die sogenannten "detribalised intellectuals" gesetzt.

Wie aber sah die Realität in Tanzania nach dem 9.12.1961, nach der Unabhängigkeit aus? Der Staat blieb in alten Strukturen gefangen. Neue soziale Sicherheit und Wohlfahrt sowie die Idee des Planungsstaates blieben unter Präsident Julius Nyerere präsent. Eine Reihe von konkreten lokalen Problemen wurde mit ungeeigneten, universalen Problemlösungsstrategien behandelt.

Im vierten Kapitel fokussiert sich Eckert auf die sogenannten "kulturellen Makler", die afrikanischen Bürokraten. Die koloniale Hierarchie war eindeutig. An höchster Stelle standen Briten, gefolgt von Asiaten und Afrikanern. Die Kluft zwischen Angestellten asiatischer und afrikanischer Herkunft wird ebenso behandelt wie die politische Animosität zwischen beiden. Nach dem Krieg verstärkte sich das Gefühl der Diskriminierung und mehrere Verbände konstituierten sich, darunter the African Civil Servants' Association. Die Tanganyika African National Union (TANU) kooptierte die wichtigsten Kader und positionierte sie für die Machtübernahme 1961.

Vier prägnante Beispiele prominenter Persönlichkeiten und Bürokraten werden in diesem Kapitel behandelt: der Bürokrat als Chief am Beipiel des "tribalen Patrioten" (Thomas Marealle), der Bürokrat als Politiker (Julius Nyerere), sowie der Bürokrat als Gewerk- und Genossenschaftler (Rashidi Kowara und Paul Bomoni). Die Details sind spannend, aber man hätte sich einige Vergleiche mit anderen britischen oder sogar französischen Ex-Kolonien gewünscht.

Das fünfte Kapitel nimmt das junge Tansania unter die Lupe. Es werden einige Schlüsselziele der neuen Regierung diskutiert, wie die Idee eines afrikanischen Sozialismus, "Ujamaa" oder die nicht realisierte Trennung von Beamtenposition und Parteimitgliedschaft, ebenso die Kontinuitäten von Zentralisierung und Autoritarismus. Er zeigt, wie Verwaltung und Politik verquickt waren und wie die britische Kolonialpolitik die Politiker Tanzanias geprägt hat. Die tanzanische politische Elite stand vor der Quadratur des Kreises, nämlich eine Einheitspartei zu formieren, die im Rahmen eines demokratischen Systems ein heterogenes Volk repräsentieren sollte. Die Umsetzung ging mit der Herausbildung einer bürokratischen Elite einher, die eine Entwicklung alternativer sozialer Kräfte verhinderte. Eckert liefert eine Beschreibung der "dominanten Staatsdiener" unter dem Einfluss der TANU. 1961 ermutigte Nyerere schriftlich hochrangige Briten, in der Staatsverwaltung zu bleiben. Ein Jahr danach änderte sich diese Politik. Die Regierung beschleunigte die Ausbildung nationaler Bürokraten, deren Anteil blitzartig von 26,1 % im Jahre 1961 auf 85,6 % im Jahre 1970 anstieg (233) und zwar im Rahmen der Politik der "Afrikanisierung", später "Lokalisierung" genannt.

Andreas Eckert hinterfragt die Gründe zweier Fehler, die Nyerere kurz vor seinem freiwilligen Rücktritt eingeräumt hat: die Abschaffung lokaler Regierungen und die Auflösung lokaler Genossenschaften. Der Autor zeigt überzeugend, wie tanzanische Politiker trotz anderslautender Schlagwörter zentralistisch blieben. Das Verbot der "tribalen Politik", identifizierte Tanzania als eine "Nation von Stämmen". Die Genossenschaften beruhten auf einer romantischen Kombination aus europäischer Genossenschaftsideologie und sogenannter "traditioneller afrikanischer Gesellschaft" (246).

Ab 1960 lässt die Dichte der Beschreibung nach. Dennoch gelingt es Eckert, das Kontinuum zwischen Vergangenheit und Gegenwart zu analysieren, ohne dass der Leser den Eindruck gewinnt, dass man mechanisch vom einen zum anderen springt. Auch eine fatale Gleichstellung beider Epochen wird elegant vermieden.

Die Behauptung, dass das Bild der afrikanischen Staatsdiener provisorisch bleiben muss, kann nur gelten, wenn der Historiker sich mit Archivarbeit begnügt. Die spannende Studie Eckerts fordert eine weitere, die in Afrika mit Afrikanern stattfinden muss. Die Akteure und ihre Nachfahren, ihre Erinnerungen und Korrespondenzen, können aufgenommen werden, um das Bild zu komplettieren.

Eckert liefert uns hier ein pädagogisches und klar gegliedertes Buch, dass auch die Wurzeln der Entwicklungszusammenarbeits-Mentalität erklärt. Dieses große Werk erinnert an zwei Klassiker der Afrikastudien. Wie sein Titel es ahnen lässt, verweist er auf Trutz von Trothas "Koloniale Herrschaft" und Frederick Coopers "Decolonization and society". Eine profunde Kenntnis der Archive und der global history erlaubt ihm, ein Meisterwerk zustande zu bringen. Eine Übersetzung ins Englische und in Swahili ist mehr als überfällig, damit die Mehrheit der Akteure diese Geschichte erleben kann.

Mamadou Diawara