Rezension über:

Thomas Zwenger: Geschichtsphilosophie. Eine kritische Grundlegung, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2008, 224 S., ISBN 978-3-534-21992-6, EUR 49,90
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Rezension von:
Thomas Bryant
Leuphana Universität, Lüneburg
Redaktionelle Betreuung:
Andreas Fahrmeir
Empfohlene Zitierweise:
Thomas Bryant: Rezension von: Thomas Zwenger: Geschichtsphilosophie. Eine kritische Grundlegung, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2008, in: sehepunkte 10 (2010), Nr. 5 [15.05.2010], URL: https://www.sehepunkte.de
/2010/05/15186.html


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Thomas Zwenger: Geschichtsphilosophie

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Das eigene Schaffen immer wieder selbstkritisch zu hinterfragen, ist eine unerlässliche Voraussetzung jedweden wissenschaftlichen Arbeitens. Welch hohe Anforderungen dies besonders an die alltägliche Arbeit des Historikers und des Philosophen stellt und wie sich dies im Sinne einer ebenso ertragreichen wie kritischen Geschichtsphilosophie darstellt, erörtert Thomas Zwenger in seinem Buch aus verschiedenen Perspektiven. Dabei zieht sich der von Immanuel Kant und den Aufklärungsphilosophen eingeführte Begriff der "Kritik" - verstanden als ein intellektueller Prozess der Selbstreflexion - wie ein roter Faden durch Zwengers Abhandlung.

Die Notwendigkeit einer solchen Abhandlung begründet der Autor im Vorwort zum einen damit, dass von diesem aufklärerischen Ideal in der heutigen Zeit nicht mehr viel übrig geblieben sei. Ungeachtet der Tatsache, dass es keineswegs an Schrifttum mangelt, das sich selbst als Einführung in das Feld der Geschichtsphilosophie versteht [1], konstatiert Zwenger zum anderen, dass man in Wirklichkeit gar nicht wisse, was "Philosophie", "Geschichte" und folglich auch "Geschichtsphilosophie" eigentlich sei. Dieses Defizit will er beheben, indem er tiefer als bislang geschehen "zu den begrifflichen Grundlagen der Erkenntnis des Historischen vorzudringen" (8) versucht. Zwenger steht dabei, wie er auch selbst bekennt, ganz klar "in der Tradition eines aufgeklärten Rationalismus" (8).

Im ersten Teil entwirft Zwenger eine "Philosophie der Philosophie der Geschichte", in der er eingangs auf den Unterschied zwischen einem Historiker und einem Geschichtsphilosophen zu sprechen kommt: Während es dem Historiker in erster Linie um die Substanz geschichtlicher Phänomene gehe, interessiere sich der Geschichtsphilosoph vielmehr für die begriffliche Struktur und das Wesen der Geschichte. Die Geschichtsphilosophie könne sich dabei verschiedener Zugänge bedienen, indem sie die Erforschung der Geschichte entweder als eine besondere Erkenntnis- oder Wissensart oder als eine besondere "Art des vom Wissen unabhängig bestehenden Seins" (10) betreibe.

Im Folgenden widmet sich Zwenger in aller Ausführlichkeit der von ihm entworfenen Systematik der drei verschiedenen Dimensionen der Geschichtsphilosophie: "Geschichtsphilosophie-1" beschreibt dabei keine exakte terminologische, sondern eher eine alltagssprachliche Dimension, bei der nur der Inhalt, aber nicht der Begriff der Geschichte problematisiert wird. Diese "philosophische" Betrachtungsweise zur Analyse historischer Begebenheiten findet sich vor allem in den (feuilletonistisch angehauchten) Massenmedien wieder.

Demgegenüber zeichnet sich Zwenger zufolge "Geschichtsphilosophie-2" ("materiale Geschichtsphilosophie") dadurch aus, dass sie eine bestimmte philosophische Form, Gestalt oder Methodik darstellt, deren historisches Denken in globalbegrifflicher und ontologisch-metaphysischer Weise "alles zur Geschichte" (18) werden lässt. Dahinter steht eine gleichsam anthropologische Disposition, die menschliche Existenz in ein sinnhaft-logisches, nicht-kontingentes und universal gültiges Seinsprinzip - als "historisches Prinzip" (19) - einordnen zu wollen.

Unter "Geschichtsphilosophie-3" ("formale Geschichtsphilosophie") fasst Zwenger schließlich all diejenigen philosophischen Ansätze zusammen, die sich mit der "Bestimmung und Begründung von Geschichte als dem historischen Wissen im allgemeinen" (24) auseinandersetzen. Hierbei geht es nicht um metaphysische Erklärungsmuster, sondern um die Frage, "welcher Art das Wissen ist, das wir von der Geschichte haben können" (24) und wie dieses Wissen generiert wird. Erkenntnistheorie und Wissenschaftstheorie sind die beiden Hauptstränge dieses geschichtsphilosophischen Ansatzes.

Bei seinen Überlegungen geht Zwenger ausführlich auf die seit jeher schwierigen fundamentalen Fragen jedweder Geschichtsphilosophie ein: Beispielsweise fragt er, ob die Historiografie überhaupt über eine eigene wissenschaftliche Methode verfüge. Hier sei die Geschichtswissenschaft im Methodenproblem aller Geisteswissenschaften gefangen, nämlich dem Widerstreit zwischen Naturalismus und Humanismus.

Im Rückgriff auf Georg Wilhelm Friedrich Hegels geschichtsdualistische Unterscheidung zwischen "res gestae" einerseits und "rerum gestarum memoria" verweist Zwenger außerdem darauf, dass schlechterdings nicht gesagt werden könne, ob "Geschichte" letztlich etwas objektiv real Seiendes oder aber etwas subjektiv konstruiert Geistiges sei.

Mit diesem Befund leitet Zwenger über zu dem nächsten großen Themenkomplex, der um die Frage von historischer Erkenntnis, historiografischer Darstellung, Geschichtsbewusstsein und (individueller sowie intersubjektiv vermittelter "kollektiver") Erinnerung kreist. Hier wäre etwa das aus erzähltheoretischer Sicht virulente "Objektivitätsproblem" zu nennen. Es ist gekennzeichnet durch die unüberbrückbare Diskrepanz zwischen den in der Vergangenheit tatsächlich vorgefallenen kontingenten Geschehnissen auf der einen und den von Geschichtsschreibern nachträglich verfassten und mit Sinnhaftigkeit belegten Überlieferungstexten auf der anderen Seite.

Mithin sei es gar nicht möglich, Geschichte "wahrheitsgemäß" zu erzählen. Zwenger führt damit das Ranke'sche Diktum - der Historiker solle das Vergangene lediglich so erzählen "wie es eigentlich gewesen" - ad absurdum. Stattdessen sei der Historiker aber zu der ethischen Selbstverpflichtung angehalten, seine Geschichtsschreibung wenigstens mit dem größtmöglichen - sprich: quellenmäßig abgestützten - Anspruch auf Wahrheit zu betreiben. In diesem Sinne könne man "bloß erzählen, wie es plausibler weise gewesen sein könnte." (206)

Dass manche Ausführungen (etwa zu Aristoteles oder der eschatologisch ausgerichteten jüdisch-christlichen Heilsgeschichte) eher kursorisch sind und andere geschichtsphilosophische Denker (wie etwa Jean-Jacques Rousseau oder Friedrich Schiller) sowie bestimmte geschichtsphilosophische Strömungen (etwa der Marxismus oder die Kritische Theorie) gänzlich unterbelichtet bleiben, ist verzeihlich. Mit der gebotenen Tiefenschärfe analysiert Zwenger schließlich auf der Höhe des aktuellen Forschungsstandes die wesentlichen heuristischen, hermeneutischen und historiografischen Kernprobleme, die sich bei geschichtsphilosophischen Überlegungen immer wieder herauskristallisieren. Zwenger untersucht das, was im "posthistorischen Zeitalter" à la Francis Fukuyama [2] aus der Mode gekommen ist und zeigt auf hohem intellektuellen Niveau und mit großer sprachlicher Präzision die ungebrochene Aktualität auf, die eine "Philosophie der Philosophie der Geschichte" (9) noch immer besitzt.


Anmerkungen:

[1] Vgl. etwa Hans-Dieter Klein: Geschichtsphilosophie. Eine Einführung, 6., unveränd. Aufl., Wien 2005; Karl-Heinz Lembeck (Hg.): Geschichtsphilosophie, Freiburg / München 2000 (Alber-Texte Philosophie, Bd. 14); Johannes Rohbeck: Geschichtsphilosophie zur Einführung, Hamburg 2004.

[2] Vgl. Francis Fukuyama: Das Ende der Geschichte, in: Europäische Rundschau, Nr. 4, 1989, 3-25.

Thomas Bryant