Klaus-Dieter Herbst / Stefan Kratochwil (Hgg.): Kommunikation in der Frühen Neuzeit, Frankfurt a.M. [u.a.]: Peter Lang 2009, 278 S., 5 Abb., 8 Tab., ISBN 978-3-631-58255-8, EUR 39,00
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Aus der Gegenwart einer elektronisch vernetzten Wissenschaft heraus erscheint die Frühe Neuzeit mit ihren Medien des Briefes, der Zeitschrift und anderer Kommunikationsmittel der Gelehrtenrepublik nicht nur aktuell, sie erscheint verständlich. So nimmt man interessiert einen Band aus dem Jenaer Umfeld der Forschungen zu Erhard Weigel entgegen, einem mathematischen Gelehrten des 17. Jahrhunderts, der auch Lehrer von Gottfried Wilhelm Leibniz war. Die enthaltenen Aufsätze behandeln die Modi der Gelehrtenkommunikation im Überblick und in Einzelstudien. Es werden weitere Mosaiksteine zu einem Bild der Produktionsbedingungen frühneuzeitlicher Wissenschaft geliefert, das an vielen Stellen in Arbeit ist. Europaweit sind Forschungsvorhaben im Gange, die eine Netzwerkanalyse der intellektuellen Arbeit früherer Jahrhunderte unternehmen. Dies ist ein weiterer Beitrag, der eine Reihe unterschiedlicher Perspektiven artikuliert.
Michael Maurer skizziert eingangs in großen Linien den "Kommunikationsraum Europa", der durch persönliche Begegnungen, vor allem aber durch Korrespondenzen und nicht zuletzt durch den Versand von Druckschriften bzw. durch Periodika in Bewegung gehalten wurde. Maurer erinnert an die Grenzen, die durch Konfessionen und politische Setzungen gezogen waren, um dann die kommunikationseingrenzende Wirkung solcher, im alten Sinne politischer Größen zu relativieren. Und in der Tat erfindet sich das gelehrte Europa nicht nur durch wissenschaftliche Erkenntnisse, sondern auch in den Wegen der Kommunikation neu, wenn beispielsweise der Protestant Leibniz mit französischen katholischen Bischöfen oder der Lutheraner Herzog August mit dem Jesuitenpater Athanasius Kircher korrespondiert. In solchen Austauschverhältnissen war Konfession Thema, ohne zugleich Beeinträchtigung oder gar Grenze des Gesprächs zu sein. Im Rückblick sieht die Frühe Neuzeit - die durchweg Zensur kennt, auch Bücherverbrennungen und jedenfalls nicht wenige Verbote - wie ein Raum des ungebrochenen Gesprächs aus, das sich in multiplen Dialogen und Netzwerken immer neue Themen und Anlässe zur Kommunikation gegeben hat.
Zugleich gilt, dass es jede Rekonstruktion der durch Korrespondenz hergestellten Netzwerke den historischen Blick immer so einstellt, dass politische und religiöse Gesichtspunkte zurücktreten und der Austausch von Gedanken über Texte eine eigene Wirklichkeit erhält. Es wird ein durch und durch diskursiviertes Universum aufgezeigt, eine Art frühneuzeitliches Internet verkoppelter Blogs. Es ging allerdings nicht immer um den reinen Wissenstransfer.
Nora Gädeke versucht, trotz der noch unabgeschlossenen Briefedition, im Werk von Leibniz, der in seinen besten Jahren mit jährlich 200 Korrespondenzpartnern und noch am Ende mit 120 pro Jahr korrespondierte, einige Strukturen deutlich zu machen. Sie zeigt, wie unter der Oberfläche einer rein sachlich orientierten Informationsaustauschkultur durchaus eine Menge von sozialen Rücksichten eine Rolle spielten: Freundschaft, Patronage, Verbindlichkeiten vielfältiger Art zeichnen eine Reihe von Briefpartnerschaften aus, die Leibniz über längere Zeit führte. Seine Briefpartnerverhältnisse waren durchweg asymmetrisch, und zwar nicht nur von der sozialen Stellung der schreibenden Individuen her, sondern durch die Funktionalisierungen, die den Briefaustausch ins Rollen brachte, wenn der Supergelehrte Leibniz seine wissenschaftliche Neugier nicht anders befriedigte als die Agenten der Höfe auf der Jagd nach politischen Neuigkeiten: selten ohne leichten Druck.
Ähnlich multidisziplinär und international wie das von Leibniz war das Korrespondentennetzwerk von Johann Jakob Scheuchzer, das Simona Boscani Leoni analysiert. Die Autorin steigt aus der reinen Nacherzählung aus und gibt Diagramme und Tabellen, die beispielsweise den hohen Anteil Schweizer Gesprächspartner belegen, sowie die durchgängige Dominanz von Medizinern, Naturwissenschaftlern und Geistlichen. Eine solche katastermäßige Erfassung des Netzwerks sowie seine Strukturierung nach inhaltlichen Akzenten ist vermutlich der Erschließung der Hintergründe von Scheuchzers heterogenem Werk dienlich, und man kann mit der Autorin vermuten, dass eine weitergehende Korrelation von geografischen und sozialen Indikatoren sowie die Prozessualität des Netzwerkes in der Entwicklung der Scheuchzerschen literarischen Produktion erst dann möglich sein wird, wenn ein vollständiges Repertorium der Korrespondenz vorliegt, woran am Institut für Kulturforschung in Graubünden zur Zeit gearbeitet wird.
Sebastian Kühns Aufsatz über "Konflikt und Freundschaft in der Gelehrtenkommunikation um 1700" zeigt, dass im Streit liegende wissenschaftliche Parteien "nicht als epistemologische Denkkollektive, sondern als Loyalitätsgruppen" formiert waren und blieben. Kühn hängt seine Beobachtungen an einem Streit zwischen Hans Sloane und John Woodward innerhalb der Royal Society aus dem Jahre 1710 auf. Im Gefolge der Untersuchungen von Marian Füssel und anderen wird hier in anschaulicher Weise Gelehrtenkultur als symbolische Praxis herausgestellt, zu der auch Ehrkonflikte gehören, die bestimmte Kommunikationsregeln erzeugen und Parteibildung fördern.
Eine interessante Zeitschrift nimmt Flemming Schock in den Blick, die von Eberhard Werner Happel (1647-1690) herausgegebenen Relationes Curiosae (1681-1691). Dieses populärwissenschaftliche Organ erschien parallel zu den Leipziger Acta Eruditorum und enthielt vor allem Buchnotizen. In diesem Beispiel eines frühen Wissenschaftsjournalismus sieht Schock einen Beleg dafür, dass eine allgemeine Neugier sich aus dem Bereich des Kuriosen emanzipiert und zum Motor einer Produktion von Texten wird, die im späten 17. bzw. im frühen 18. Jahrhundert immer mehr Autoren beschäftigt und immer mehr Leser findet: Die populärwissenschaftlichen Zeitschriften funktionieren als Randphänomen der gelehrten Diskussionskultur, lange bevor sie ab der Mitte des 18. Jahrhunderts zum Massenphänomen werden.
Dass die in der Frühen Neuzeit verbreiteten Kalender ebenfalls unter dem Aspekt der wissenschaftlichen Kommunikation behandelt werden können, zeigt Klaus Dieter Herbst eindrucksvoll an mehreren Beispielen. Vor dem Hintergrund der Kenntnis von mehr als 5.000 Kalenderwerken des 17. Jahrhunderts untersucht er besonders die Produkte von Johannes Grabbe (gestorben 1620) und Gottfried Kirch (Kalender ab 1667). Die astronomischen Daten, die in den Kalendern wesentlich eingebunden sind, wurden häufig brieflich übermittelt, was in den Kalendern gelegentlich sich sogar problematisiert findet. Das sind aussagekräftige Stellen immer dann, wenn die zitierten Briefe inzwischen nicht mehr handschriftlich überliefert sind. Herbst geht noch auf andere Kalenderwerke von Ullrich Junius, Johannes Magirus und Johann Christoph Sturm ein, um am Schluss Kalender als Informationsquellen und zugleich Angebote der Diskussion von Information zu bezeichnen. Kalender sollten als Mittler zwischen den Gelehrten und den gebildeten Lesern anerkannt werden, sagt der Autor, der auf die Webseite http://www.gottfried-kirch-edition.de für weitere Einsichten zu diesem weit verbreiteten, heute aber schwer zu rekonstruierenden Genre verweist.
Der Sammelband schließt mit einem Aufsatz von Martin Gierl über die Gelehrtenrepublik mit einschlägigen Hinweisen zur Rolle der Intelligenzblätter und der Bibliotheken. Als Beispiel für die Verbindung von Zeitschriftenfunktion und Bibliothekssymbol wird im Anschluss die Jenaische philosophische Bibliothek von Georg Darjes (1714-1791) herangezogen, die Günter Dörfel und Joachim Bauer vorstellen. Andere Hinweise auf Orte gelehrter Kommunikation geben in dem Sammelband auch Maria Stuiber (Briefwechsel zwischen Oluf Gerhard Tychsen und Stefano Borgia), Stefan Kratochwil (Briefwechsel von Erhard Weigel), Ingrid Guentherodt (Briefwechsel des schlesischen Gelehrtenehepaars Cunitia/de Leonibus mit dem Astronomen Hevelius und Bullialdus) sowie Hans Gaab über einen Kontakt zwischen dem Altdorfer Professor Abdias Trew mit Herzog August von Braunschweig-Lüneburg. Die Rolle kommunikativer Netzwerke im radikalen Pietismus untersucht Eberhard Fritz, und die Frage nach dem Nutzen der Philosophie im Briefwechsel von Leibniz beschäftigt Konrad Moll.
Der vorliegende Sammelband ist ein Arbeitsergebnis im besten Sinne und wird von den Wissenschaftshistorikern einschlägig verzettelt werden. Auf die Zeit, in der diese Netzwerkanalysen samt ihren Materialien im heute gängigen Kommunikationsnetz des www präsent sein werden, muss man wohl etwas warten, denn noch betont der Verlag, dass der Druck auf säurefreiem Papier stattfand. Der rein datenbanklogischen Vernetzung steht auch der durchaus inhaltliche, auslegende Charakter der Beiträge entgegen. Sie dokumentieren nicht nur, sie interpretieren. Alle Texte sind gut lesbar und artikulieren mit hinreichender Deutlichkeit den jeweiligen Anspruch und dessen Grenzen: für eine im Wachsen begriffene Erforschung der Korrespondenznetzwerke der Frühen Neuzeit ein guter Dünger.
Ulrich Johannes Schneider