Jenny Rahel Oesterle: Kalifat und Königtum. Herrschaftsrepräsentation der Fatimiden, Ottonen und frühen Salier an religiösen Hochfesten (= Symbolische Kommunikation in der Vormoderne. Studien zur Geschichte, Literatur und Kunst), Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2009, 407 S., ISBN 978-3-534-21961-2, EUR 79,90
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Das Buch ist in Zusammenarbeit mit dem SFB "Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme vom Mittelalter bis zur Französischen Revolution" an der Universität Münster entstanden und basiert auf einer ebendort 2007 eingereichten Dissertation. Es erweitert auf willkommene Weise das Blickfeld, indem es in vergleichender Betrachtung auch die islamische Welt einbezieht. Aber nicht auf das abbasidische und sunnitische Kalifat in Bagdad richtet Jenny Oesterle ihr Augenmerk, sondern auf das ismailitisch-schiitische in Kairo. Damit erreicht sie in etwa eine chronologische Parallelisierung zu der ottonischen und frühsalischen Epoche, vor allem aber vergleicht sie zwei Herrschaftsbildungen, die sich in der zweiten Hälfte des 10. Jahrhunderts intensiv um ihre Herrschaftslegitimation bemühten: die Fatimiden als "revolutionäres Gegenkalifat" zu dem der Abbasiden, das ottonisch-frühsalische Königtum als sakrale Königsherrschaft in einer Gesellschaft, die von prinzipiell gleichberechtigten Großen getragen wurde, aus deren Reihen die Könige hervorgegangen waren und deren Konsens zur Herrschaftsausübung unverzichtbar war. Diesen zwei Kulturen ist eine dritte zur Seite zu stellen, das byzantinisch-römische Reich mit seinen Formen der Herrschaftsrepräsentation, die sich seit der Spätantike entfaltet hatten. Zu Recht spricht Oesterle (20) von einer "Dreieckskonstellation" Byzanz - Fatimiden - Ottonen und sieht in Byzanz "die politisch und kulturell relevante Bezugsgröße" für die beiden letztgenannten.
Aber weniger diese Bezugsgröße und die durch diese vermittelten Gemeinsamkeiten stehen im Mittelpunkt ihres Interesses, sondern Oesterle widmet sich stärker den Eigentümlichkeiten fatimidischer und ottonisch-frühsalischer Herrschaftsrepräsentation. Den Prozessionen der Herrscher zur Moschee oder Kirche gilt ihr erstes Hauptkapitel (74-249). Die beiden folgenden werten die dort erzielten Ergebnisse unter den Gesichtspunkten "Herrschafts-Räume" (250-311) und "Herrschafts-Zeiten" (312-355) aus. Die Prozessionen dergestalt zum Leitfaden der Analyse zu machen, kann Oesterle aus den Beschreibungen der byzantinischen Herrscherprozession durch Liudprand von Cremona und (ebenfalls im 10. Jahrhundert entstanden) durch den Syrer Harun Ibn Yahya, der eine solche als Kriegsgefangener erlebte, begründen. Gerade die karikierende Darstellung Liudprands lässt erahnen, wie "öffentlichkeitswirksam" diese Prozessionen waren.
Der herrschaftsbegründende und -legitimierende Charakter von Prozessionen ist für die Fatimiden offenkundig. Denn diese gründeten mit Kairo eine neue Palast- und "Hauptstadt", in die der Kalif al-Muizz 973 in feierlicher Prozession einzog. Liturgisierung und Militarisierung sind die Stichworte für die folgenden fatimidischen Prozessionen in Kairo. Sie sind insgesamt ein flexibles Instrument herrscherlicher Repräsentation, denn der Kalif residierte in einer Stadt, in der seine schiitische Glaubensgemeinschaft eine Minderheit gegenüber Sunniten, Christen und Juden bildete. Dabei war er nicht allein Herrscher, sondern auch der von Gott eingesetzte Imam einer muslimischen Richtung, die sich einen innermuslimischen Missionsauftrag zuschrieb. Von einer "festen" Residenz ausgehend unterschieden sich die fatimidischen Prozessionen von der des ottonisch-salischen Reisekönigtums. Bei den Herrschafts-Räumen lässt sich ein ebenso grundsätzlicher Unterschied feststellen. Der fatimidische Kalifenpalast galt anders als eine Königspfalz (aber dem byzantinischen Kaiserpalast vergleichbar) als ein sakraler, durch Präsenz und Agieren des Kalifen geheiligter Raum, während die Moschee oder der Gebetsplatz, den der Kalif aufsuchte, anders als eine christliche Kirche kein geweihter Raum war. In der Nutzung der religiösen Feste für die Herrschaftsrepräsentation lässt sich kein prinzipieller Unterschied zwischen den Kalifen und den ottonischen sowie salischen Königen beobachten, doch konnte angesichts der religiösen Spannungen zwischen Schiiten und Sunniten die Festbegehung durch den Kalifen sowohl integrierend als auch konfliktauslösend wirken. Unter den späten Saliern kam der integrierende und Frieden demonstrierende Charakter des Festes teilweise nicht mehr zum Tragen, wofür die Lütticher Osterbegehung von 1106 steht. Wiederholt weitet Oesterle ihre Untersuchungen bis in die späte Salierzeit aus, die sich auch hier als eine Krisen- und Umbruchszeit erweist.
Vergleichende Untersuchungen zu unterschiedlichen Kulturen setzen sich leicht dem Vorwurf aus, sie würden für die auf eine einzelne der behandelten Kulturen konzentrierte Forschung wenig Erkenntnisfortschritt bringen. Aus der Sicht der auf Lateineuropa bezogenen Mediävistik trifft das bei Oesterles Arbeit nicht zu, wie zum Beispiel ihre Analyse zeigt, warum Heinrich V. sozusagen mit aller Gewalt an Ostern 1106 mit seinem Vater in Lüttich zusammentreffen wollte (auch ihre Interpretationen zur fatimidischen Geschichte haben mich als Laien überzeugt, nicht zuletzt wegen des Methodenbewusstseins). Ich halte die Forderung nach Fortschritt im Detail überhaupt für einen irreführenden Gesichtspunkt. Denn der Wert derartiger vergleichender Arbeiten liegt vor allem darin, dass der mit dem lateinischen Europa Beschäftigte den Stellenwert seiner Beobachtungen genauer einschätzen kann. Oesterles Buch beweist das immer wieder. Das militärische Gepränge etwa, das die Fatimiden bei ihren Prozessionen teilweise und situationsbedingt zur Schau stellten, hat offensichtlich kein Gegenstück bei den Ottonen und frühen Saliern (wo es wohl nur bei dem Rückweg von der Kirche zum Palast hätte Platz haben können, doch fehlen Nachrichten über militärische Machtentfaltung auch für den Zug Konrads II. von Kamba, dem Ort seiner Wahl, zum Krönungsort Mainz). Hier scheint repräsentative Machtentfaltung durch Demonstration der Demut vor Gott und seiner Kirche sowie des Konsenses mit den Großen "gebändigt" gewesen zu sein, obwohl militärische Siegfähigkeit zu den Voraussetzungen der Königsherrschaft gehörte und in den Krönungsordines beschworen wurde. Wenn Oesterle darauf hinweist, wie sehr die kirchlichen Festtage und -zyklen mit Formen von Herrschaftsrepräsentation, Hoftagen und Ähnlichem verbunden waren, rennt sie natürlich offene Türen ein (das weiß sie selbst, denn sie bringt das in einer Anmerkung unter, 313 Anm. 950). Doch hatte die Erfurter Synode 932 verfügt, dass die christlichen Fest- und Fasttage von weltlichen Gerichtstagen frei sein sollten. Wenn man so will, war die Reduktion "staatlicher Gewalt", nicht ihr Zurschaustellen oder Ausüben das Kennzeichen herrscherlicher Festbegehung der Ottonen und frühen Salier.
Den Unterschied zwischen fatimidischer und ottonisch-salischer Herrschaftsrepräsentation fasst Oesterle in das Begriffspaar Epiphanie/Diaphanie. Lassen sich die fatimidischen Herrscherprozessionen als Erscheinung eines von Gott eingesetzten Herrschers und seiner Macht deuten, so scheint in dem in die Kirche einziehenden und dort demütig verharrenden ottonisch-salischen Herrscher die göttliche Majestät auf. Jenny Oesterles Untersuchung ist gedankenreich und anregend. Auch wenn das Buch mehr zu einer Gesamtlektüre oder zum Studium der dichten Einzelkapitel und -interpretationen einlädt, ist das Fehlen eines Registers zu bedauern.
Ernst-Dieter Hehl