Peer Schmidt / Gregor Weber (Hgg.): Traum und res publica. Traumkulturen und Deutungen sozialer Wirklichkeiten im Europa von Renaissance und Barock (= Colloquia Augustana; Bd. 26), Berlin: Akademie Verlag 2008, 399 S., ISBN 978-3-05-004568-9, EUR 69,80
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"Wer Visionen hat, sollte lieber gleich zum Arzt gehen!" Dieses heute immer wieder gern zitierte postideologische Bonmot des Altkanzlers Helmut Schmidt hätte bereits von Luther, Paracelsus oder Bodin stammen können. Das kann man zumindest der Lektüre des vorliegenden Sammelbandes entnehmen, der mehrheitlich aus einer Tagung am Institut für Europäische Kulturgeschichte der Universität Augsburg im Jahr 2005 hervorgegangen ist. Tatsächlich eröffnen die einzelnen Beiträge, die aus dem Bereich der Literatur- und Geschichtswissenschaft sowie in einem Fall der Kunstgeschichte stammen, gestützt auf eine breite Quellenbasis manch erhellende Einsicht über den Zusammenhang von Traum und Politik in der Frühen Neuzeit. Die vernunftgestützte Traumkritik der Aufklärung, so ließe sich ein Gesamteindruck formulieren, verdankt sich keineswegs allein einem Säkularisierungsprozess, welcher Religion und Theologie äußerlich war, sondern baut auf den innerreligiösen Konflikt zwischen orthodoxen Priestern und heterodoxen Propheten auf, der später durch Astrologen, Ärzte, Literaten und andere Laien erweitert wurde. Damit scheint sich eine These aus Max Webers Religionssoziologie zu bestätigen, die später von Pierre Bourdieu auch auf andere sozio-kulturelle Praktiken übertragen wurde. Der Status und die politische Auslegung visionärer Träume verdanken sich letztlich dem sozialen Konflikt. Der Kampf um die charismatische Kommunikation mit dem Übernatürlichen und Göttlichen bekommt mit der Reformation und der anschließenden Konfessionalisierung eine neue Qualität, so dass man mit Marion Kintzinger zu Recht vom "Jahrhundert der Träumer" sprechen kann (291).
In gesellschaftspolitischen Umbruchsituationen wächst nicht nur das Bedürfnis nach politischer Prognostik sowie imaginärer Bewältigung traumatischer Ereignisse - worauf insbesondere Peer Schmidt in seinem Beitrag zum Dreißigjährigen Krieg hinweist -, die Orthodoxie verliert auch die Kontrolle über die Verwaltung der Heilsgüter. Sowohl die katholische als insbesondere auch die sich neu etablierende protestantische Orthodoxie musste insofern auf die visionäre Laienbewegung reagieren. So wurden gerade von der Orthodoxie anthropologisch-medizinische Argumente zur Evaluierung bzw. Pathologisierung prophetischer Traumvisionen aufgegriffen, die, wie Claire Cantet am Beispiel Jean Bodins und der französischen Traumdebatte zwischen 1560 und 1620 zeigt, auch in die profane Rechtsprechung Eingang fanden. Sie demonstriert, wie "die politische Instrumentalisierung des Traum-Motivs die medizinische Auseinandersetzung mit dem Traum förderte, welche selbst die Auffassung von Traum veränderte" (310). Die Rückführung politischer Träume auf natürliche Ursachen, so der allgemeine Schluss, muss keineswegs immer einen aufklärerisch-ideologiekritischen Hintergrund haben, sondern kann im Gegenteil durchaus den doktrinären Status quo rechtfertigen. Besonders deutlich wird das, wie Ulman Weiß für die deutschen Territorien und Holger Berg für Skandinavien vorführen, im Luthertum, wo die visionäre Kommunikation mit dem Übernatürlichen legitimer Weise allein auf das Medium der Heiligen Schrift beschränkt wurde und alles darüber Hinausgehende dem Verdikt des Wahnsinns oder des Dämonischen verfiel. Es waren vor allem die lutherischen Theologen, welche die visionären Schwärmer unter Berufung auf Paracelsus und Caspar Peucer sowie den Logozentrismus der Schrift gleichsam zum Arzt - oder zum Teufel - schickten.
Eine weitere überraschende Einsicht des Bandes besteht darin, dass die rationalistische Traumkritik, die sich eng mit dem politischen Projekt des Absolutismus verband, dem Imaginären keineswegs so feindlich gesonnen war, wie zumeist behauptet wird. Das Imaginäre wanderte vielmehr aus der orthodoxen Theologie aus, um in Literatur, Kunst und Theater ein neues profaneres Medium zu finden. Innere Traumerlebnisse konnten in der Literatur (Manfred Engel, Dorothea Scholl), im Theater (Bernhard Teuber, Gerhard Poppenberg, Andreas Höfele) und in der bildenden Kunst (Jan Harasimowicz) veräußerlicht werden, wobei das jeweilige Medium zugleich als rationale Metapher für Trugbilder fungierte, ohne jedoch deren öffentlich-politische Wirkung zu schmälern. Der Traum und die imaginäre Einbildungskraft des Unbewussten blieben trotz aller Kritik konstitutiver Bestandteil einer komplexen kulturellen Vernunftökonomie. Teuber demonstriert u.a. am Beispiel von Descartes und Pascal sowie Corneille und Racine sehr eindrucksvoll, wie die philosophische bzw. dramatische Traumkritik der französischen Klassik mit einer reflexiven Apologie verbunden ist. Auf ganz ähnliche Tendenzen weisen Poppenberg für die spanischen Dramatik des 17. Jahrhunderts (Calderón: La vida es sueño) und Höfele für die Dramen Shakespears hin. Während bei Calderón nur durch die Ontologie des Traums eine politische Sublimierung psychologischer Konflikte zwischen dem egozentrischen Individuum und dem durch die Krone verkörperten allgemeinen Gesetz möglich wird, überbrücken die Traummotive bei Shakespeare die politische Spannung zwischen dem Gottesgnadentum und dem säkularen politischen Humanismus. "Wir wachen schlafend und schlafen wachend", so lautet ein analoges Diktum Michel Montaignes, das Gantet als Beispiel für eine neue "Ästhetik des Bruchs" (322) anführt, die vom fiktiven Traum kein transzendentales Wissen, sondern nur noch die Problematisierung der Realität erwartet. Das Leben erscheint als ein einziger Traum, in dem Bewusstseinszustände nur graduell unterschieden werden können. Dass Montaigne diesbezüglich mit den "Groteskenträumen" der italienischen Renaissance- und Barockliteratur verbunden ist, lässt sich dem Beitrag von Dorothea Scholl entnehmen. Wahrheit und Fiktion sind in den Grotesken bis zur Ununterscheidbarkeit verknüpft, so dass die dogmatische Eindeutigkeit ebenso in Frage gestellt wird wie politische Hierarchien, was Platz schafft für eine Pluralität von fantastisch-utopischen Traumwelten. Selbst in der Spätaufklärung bewahrte der Traum, wie Peter Burschel am Beispiel von Merciers L'An 2440 demonstriert, seinen ontologischen Status und blieb Teil einer paradoxen Vernunftökonomie. Einerseits steht der Traum hier im anthropologischen Diskurs der Aufklärung der Vernunft gegenüber, anderseits kann die Vernunft nur im Traum gelingen.
Neben einem detaillierten Überblick über die europäische Traumlandschaft, in dem der Leser allerdings Osteuropa schmerzlich vermisst, werden einzelne zentrale Traummotive thematisiert. Wolfgang E. J. Weber beschäftig sich mit der Bedeutung der Danielsprophetie für die Legitimation des Reiches und der Reichseliten. Der Traum Nebukadnezars von den vier Reichen verbindet die eschatologisch-transzendente Dimension des Reiches mit seiner profan-politischen Wirklichkeit im Motiv der translatio imperii; res publica und res sacra werden in diesem Traum paradigmatisch miteinander vermittelt. Als geschichtstheologisches Grundmuster einte diese Vision Katholiken und Lutheraner, wobei letztere im 17. Jahrhundert jedoch die Verbindung des kaiserlichen Amtes mit dem Hause Habsburg kappten. Erst der politische Bedeutungsverlust des Reiches führte schließlich zur Ablösung der Vier-Reiche-Lehre durch die neue, profanere Geschichtsperiodisierung in Alte, Mittelalterliche und Neue Geschichte. Daneben werden zahlreiche Träume gekrönter Häupter diskutiert, unter denen der "Traum Friedrich des Weisen" (Harasimowicz, Weiß, Schmidt) und des "Löwen aus Mitternacht" (Kintzinger, Schmidt, Berg) herausragen.
Alles in allem handelt es sich um eine gelungene Begegnung von Literatur- und Geschichtswissenschaft, die insbesondere das historiografische Defizit bei der Erforschung des Traums als soziales Deutungs- und politisches Legitimationsmuster in der Frühen Neuzeit zu beheben hilft. Es ist ein großes Verdienst des Bandes, der Geschichte des Imaginären, die in der romanischen und angelsächsischen Historiografie fest etabliert ist (J. Le Goff, C. Ginzburg, P. Burke etc.), auch in Deutschland weitere Anerkennung zu verschaffen. Umso misslicher empfindet der Rezensent den etwas voreiligen Ausschluss der Psychoanalyse durch die Herausgeber aus einem ansonsten vorbildlich gehandhabten Methodenpluralismus. Zum Glück halten sich die Beiträger jedoch nicht strikt an diese Vorgabe. Wie der Beitrag Poppenbergs zeigt, müssen aktuelle psychoanalytisch inspirierte Methoden keineswegs notwendig zur anachronistischen Privation des Traumgeschehens führen, sondern können im Gegenteil zur Aufklärung des komplexen Zusammenhang zwischen individuellem und "politischem Körper" beitragen. So bietet der Traum nicht nur einen privilegierten Zugang zum Unbewussten, sondern auch zur Geschichte überhaupt, insofern das Unbewusste unsere kollektive Geschichte, die unsere Denkschemata erzeugt, mit unserer individuellen Geschichte verbindet, die sie uns eingeprägt hat. [1] Auf diese Weise können wir aus der Geschichte lernen, dass unserer Wahrnehmung von Realität letztlich immer schon eine bestimmte politische Fantasie zugrunde liegt. Wer sich dies nicht eingestehen will und weiter von der realen Unmittelbarkeit träumt, muss tatsächlich solange fantasieren, bis der Arzt kommt.
Anmerkung:
[1] Vgl. Pierre Bourdieu: Meditationen. Zur Kritik der scholastischen Vernunft. Aus dem Französischen v. Achim Russer u.a., Frankfurt a.M. 2001, 18.
Axel Rüdiger