Rezension über:

Heike Wolter: "Ich harre aus im Land und geh, ihm fremd". Die Geschichte des Tourismus in der DDR (= Deutsches Museum. Beiträge zur Historischen Verkehrsforschung; Bd. 10), Frankfurt/M.: Campus 2009, 547 S., ISBN 978-3-593-39055-0, EUR 45,00
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Rezension von:
Rüdiger Hachtmann
Zentrum für Zeithistorische Forschung, Potsdam
Redaktionelle Betreuung:
Dierk Hoffmann / Hermann Wentker im Auftrag der Redaktion der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte
Empfohlene Zitierweise:
Rüdiger Hachtmann: Rezension von: Heike Wolter: "Ich harre aus im Land und geh, ihm fremd". Die Geschichte des Tourismus in der DDR, Frankfurt/M.: Campus 2009, in: sehepunkte 10 (2010), Nr. 5 [15.05.2010], URL: https://www.sehepunkte.de
/2010/05/17252.html


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Heike Wolter: "Ich harre aus im Land und geh, ihm fremd"

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Eine Monografie, die mit dem Anspruch daherkommt, das erste Mal die Geschichte des Tourismus in der DDR ausführlich und zudem (so der Klappentext) mit "zahlreichen neuen Einblicken" darzustellen, weckt Erwartungen und macht neugierig. Diesen Erwartungen wird die Dissertation von Heike Wolter leider nur teilweise gerecht. Eine erste Enttäuschung stellt sich ein, wenn der Leser feststellen muss, dass Wolter - statt der erwarteten 40 Jahre DDR - lediglich die beiden letzten Jahrzehnte der SED-Herrschaft in den Blick nimmt. Die Genesis des DDR-Tourismus und seine Entwicklung während der Ulbricht-Ära werden, über die Auflistung von Basisdaten hinaus, ausgeblendet. Die Beschränkung auf die Honecker-Ära hat Konsequenzen: Der Tourismus im ostdeutschen Staat wirkt in der Darstellung von Wolter merkwürdig statisch.

Gleichwohl wird der Leser über wichtige Fakten zum Tourismus während der Herrschaft Honeckers zuverlässig informiert. So erfährt er einiges insbesondere über die rechtlichen Grundlagen, die Prinzipien staatlicher Tourismuspolitik in der späten DDR, die Reiseverkehrsmittel sowie die Reiseveranstalter, namentlich den FDGB-Feriendienst und die Betriebe, das Reisebüro der DDR, FDJ-Jugendtourist sowie "weitere Leistungsanbieter". Auch zum Camping-Tourismus in der DDR wartet Wolter mit wichtigen Informationen auf. Ein Grundproblem ist freilich, dass die Autorin sich in erster Linie "auf die Entscheidungskompetenzen in erholungspolitischen Belangen" konzentriert. Tatsächlich bleibt ihre Perspektive obrigkeits- und systemfokussiert; der institutionelle und politisch-ideologische Blick "von oben" nimmt den größten Raum des umfangreichen Werkes ein. Die "zeitgenössischen individuellen Aneignungen", also der Blick "von unten", werden auf lediglich sieben von gut fünfhundert Seiten abgehandelt. Mit gutem Willen kann man der Perspektive' "von unten" außerdem noch die "Eingaben und Ausreiseanträge" (auf acht Seiten) zuordnen, obwohl Letztere sich nur mit einigem begrifflichen Aufwand unter "Tourismus" fassen lassen, ferner einige Passagen aus dem knappen "Ausblick: Tourismus in der Systemtransformation". Das ändert jedoch nichts daran, dass die Perspektive "von oben" die Arbeit dominiert. Die Perspektivenverengung wiederum verstärkt den durch die Beschränkung auf die Zeit zwischen 1970 und 1989 hervorgerufenen Eindruck eines "gefrorenen" DDR-Tourismus. Der Tourismus im ostdeutschen Staat gerinnt Wolter unter der Hand zu einem Idealtypus, dem jegliche historische Dynamik abgeht - obwohl er diese zweifelsohne besessen hat.

Nicht nur die unausgewogene Perspektive und das weitgehende Ausblenden historischer Entwicklungen im ostdeutschen Tourismus lassen den Leser unzufrieden zurück. Hinzu tritt eine teleologische Aufladung in der Darstellung, die die Geschichte des ostdeutschen Tourismus vom Ende her aufzäumt und die DDR mitsamt ihrem Tourismus als von Anfang an dem Untergang geweiht erscheinen lässt. Darüber hinaus wirkt die Arbeit konzeptionell merkwürdig zerrissen. Ihre theoretischen Bemühungen, nämlich eine Diskussion darüber, inwieweit sich der DDR-Tourismus besser mit der Totalitarismus-, der Modernisierungstheorie oder gar mit dem Konzept der "charismatischen Herrschaft" von Max Weber fassen lässt, stellt Wolter erst im letzten Viertel ihrer Arbeit vor. Das irritiert. Die Diskussion eines dem Gegenstand angemessenen theoretischen Rahmens hätte eigentlich an den Anfang gehört. Eine Erörterung weitreichender und überdies ambivalenter Theorien kann im Rahmen einer Tourismusgeschichte der letzten Phase der DDR zudem nur verknappt und mitunter arg vereinfacht geschehen. Für die resümierende Feststellung, dass "jedes der [Theorie-]Angebote nur Teilbereiche des Gesamtphänomens Tourismus" erfasst, wäre sie nicht nötig gewesen. Spannender wäre stattdessen z.B. der Seitenblick auf die bahnbrechende Arbeit von Cord Pagenstecher zum bundesdeutschen Tourismus gewesen und eine Diskussion der Frage, inwieweit die von Pagenstecher vorgetragenen konzeptionellen Überlegungen auch für den DDR-Tourismus fruchtbar gemacht werden können. [1]

An den Schluss ihre Studie stellt Wolter schließlich diachrone und synchrone Vergleiche mit anderen Tourismen (Weimarer Republik, Nationalsozialismus, ost- und westeuropäische Länder). Auch diese Vergleiche können nicht überzeugen. Der Vergleich der Tourismen "DDR - Nationalsozialismus", auf drei Seiten abgehandelt, ignoriert unter anderem, dass der FDGB-Feriendienst, weitere staatliche Reiseanbieter sowie die Erholungsangebote der "volkseigenen" Betriebe ein weitgehendes Monopol auf den organisierten Tourismus besaßen und private Tourismusanbieter ausgeschaltet wurden, während "Kraft durch Freude" dagegen neben einer gleichfalls boomenden privaten Konkurrenz existierte und selbst auf dem Höhepunkt bestenfalls zehn Prozent des Gesamttourismus auf sich konzentrieren konnte. Diese sehr unterschiedlichen Relationen zwischen quasistaatlichen und privaten Tourismusanbietern wiederum waren maßgeblich verantwortlich dafür, dass die Defizite von KDF nicht dem NS-System angelastet wurde, während sich der wachsende Ärger namentlich mit dem FDGB-Feriendienst unmittelbar auf das SED-Regime bezog. Die politisch weit reichenden Konsequenzen dieser beiden sehr unterschiedlichen Systeme von Sozialtourismus sind bekannt. Zu kritisieren ist schließlich die oft hölzerne, mitunter auch unverständliche Sprache, die die Lektüre nicht gerade zu einem Lesevergnügen macht. Ein Beispiel unter vielen: "Die DDR existierte in einer Zeit, in der Tourismus als Grundform bereits in der Ausprägung des Massentourismus mit seinen spezifischen Existenzbedingungen vorherrschte." Fazit: Die Autorin hat sich zu viel vorgenommen. Sie bietet wichtige Detailinformationen, die durch ein Register leider nicht erschlossen werden. Das Standardwerk zum Tourismus in der DDR steht indes weiterhin aus.


Anmerkung:

[1] Cord Pagenstecher: Der bundesdeutsche Tourismus. Ansätze zu einer Visual History. Urlaubsprospekte, Reiseführer, Fotoalben 1950-1990, Hamburg 2003.

Rüdiger Hachtmann