Greil Marcus / Werner Sollors (eds.): A New Literary History of America, Cambridge, MA / London: Harvard University Press 2009, XXVII + 1095 S., ISBN 978-0-674-03594-2, GBP 36,95
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Die beiden Herausgeber, Greil Marcus und Werner Sollors, legen mit "A New Literary History of America" ein Nachschlagewerk vor, das auf den ersten Blick etwas befremdlich wirkt. Eine "neue amerikanische Literaturgeschichte" in deren 219 Aufsätzen Themen wie die Anonymen Alkoholiker, die Winchester rifle, Linda Lovelace und Hurricane Katrina behandelt werden, nicht aber John Updike, muss sich einige Fragen gefallen lassen.
Sollors und Marcus weisen daraufhin, dass sie weder den etablierten Kanon über den Haufen werfen, noch einen neuen erfinden wollen. Literatur ist für sie nicht nur Geschriebenes, sondern auch Gesprochenes. Ihr zentrales Anliegen ist es, "Amerikas Stimme" in all ihren Formen Gehör zu verschaffen (XXIV); seien es Bücher, Gedichte, politische Reden, Musik, Monumente, oder aussagekräftige Ereignisse. Einem Ding einen Namen zu geben, kommt für sie einem Schöpfungsakt gleich: "the act of naming is the act of founding, of making, even of discovery." Amerika und seine Geschichte sind das beste Beispiel für ein Land, eine Nation und eine Gesellschaft, die sich selbst erfinden und definieren musste, und bis heute muss. Literaturgeschichte ist eine Geschichte des Erfundenen, wie die Geschichte der USA stets neu erfunden wird: "made-up histories, as America was made up, as its historical story has always stood, from its first steps, as a temptation to the imagination." (XXIII)
Obwohl die Beiträge des Bandes chronologisch angeordnet sind, beginnend mit der ersten Erwähnung Amerikas auf einer Weltkarte, einem Akt der Namensgebung, bis hin zur Wahl Barack Obamas, kann man mit jedem beliebigen Beitrag beginnen oder die "New Literary History" einfach wie ein Nachschlagewerk verwenden. Anders aber als bei den bisher etablierten Literaturgeschichten, geben die Autoren meist keine Zusammenfassung und Erklärung des jeweiligen Themas, sondern werfen tatsächlich neue Fragen auf und beleuchten bisher nicht beachtete Aspekte. Da sich die Herausgeber bemühten, Experten zu finden, deren Expertise bewusst in einem anderen als dem bearbeiteten Bereich liegen sollte, ist dies nur konsequent.
So trifft der Leser auf mehrere ungewöhnliche Begegnungen, unter anderem wenn Charles Taylor "JFK's Inaugural Address and Catch 22" (895-899) bespricht oder Carolyn Porter William Faulkners "Absalom, Absalom!" und Margaret Mitchells "Gone with the Wind" (705-710) zusammenbringt. Sie analysiert den Mythos des alten Südens, der sowohl bei Faulkner als auch Mitchell eine Rolle spielt und von beiden als nostalgisches Konstrukt entlarvt wird, auch wenn die Verfilmung von Mitchells "Gone with the Wind" den Mythos durch die Hintertür wieder hereinholt. Der alte Süden ist in all seinen Ausformungen und Mythen eine der zahllosen "made-up histories" aus denen Amerikas vielschichtige Geschichte besteht, und die immer neu erzählt werden, hier von Faulkner und Mitchell. Kern dieser beiden Geschichten ist der Umgang mit rassistischen Stereotypen und das Erbe der Sklaverei. Diese findet sich, so Porter, im "American Dream" selbst; die politische und ökonomische Freiheit der USA waren von Anfang mit Sklaverei verbunden (709). Und so zieht sie sich nicht nur wie ein roter Faden durch die amerikanische Geschichte und Literatur, sondern auch durch das vorliegende Werk, das immer wider auf den Civil War, die Sklaverei und Abraham Lincoln zurückkommt. In seinem brillant geschriebenen Aufsatz "Mark Twain's Hairball" (380-384) weist Ishmael Reed auf die zahlreichen immer noch aktuellen Stereotypen hin und rehabilitiert Mark Twain vom Vorwurf, den Sklaven Jim in "Huckleberry Finn" zu roh gezeichnet zu haben. Im Gegensatz zu Saul Bellow, Tom Wolfe, Barbara Smith und vielen mehr, beschreibe Twain seinen schwarzen Protagonisten nicht als dummes, bestialisches, sexbesessenes Raubtier, sondern als fürsorglichen, sympathischen Kerl, der mit unbezwingbaren Kräften ringt. Einige dieser Kräfte haben bis heute überlebt: Hucks Schrei, "I want my Nigger", ist für Reed bis heute aktuell. So ließe sich erklären, dass sich mehr Amerikaner für die Vorwürfe des Kindesmissbrauchs gegen Michael Jackson interessierten, als für die Toten des Irakkrieges (384). In mancher Hinsicht ist die amerikanische Psyche noch genauso gespalten wie vor dem Bürgerkrieg.
Getreu ihrem Vorhaben, die Sprache in all ihren Formen in den Mittelpunkt zu stellen, legten die Herausgeber für die Autoren keine Grenzen fest und diese nehmen auch kein Blatt vor den Mund, was einen erfrischenden Stil und eine direkte Offenheit zur Folge hat. Reed bezeichnet die Erzählstruktur in "Huckleberry Finn" als "about as solid as a New Orleans levee" (380) und Susan Castillo spannt einen Bogen von den "Salem Witch Trials" (59-63) über McCarthy zum Waterboarding. Merritt Roe Smith argumentiert gegen alle Gegner einer starken nationalen Regierung, dass ohne diese der unglaubliche Erfolg der amerikanischen Wirtschaft nicht möglich gewesen wäre, sein Beipiel: die "Winchester rifle" (353-358). James Dawes zeigt, dass der "butcher" U.S. Grant (397-401) nie soweit gegangen wäre wie die Bush Administration und Kara Walker schließlich schreibt ihren Beitrag zu "Barack Obama" (1045-1050) nicht, sie gestaltet ihn mit Bildern und Silhouetten, umrahmt von Zitaten, teils aus Obamas Autobiografie. So wie sich durch dieses unkonventionelle Vorgehen neue Perspektiven erschließen, so ergeben sich auch Ungenauigkeiten: Grant wird schon lange nicht mehr als der "butcher" gesehen, als den ihn Dawes noch bezeichnet.
Neben diesen kleineren Ungenauigkeiten ist leider zu bemängeln, dass die Qualität der letzten Beiträge, ab dem Kapitel zu 1970, nachlässt, umso stärker stellt sich die Frage, warum David Foster Wallace, John Updike und Don DeLillo nicht in eigenen Beiträgen gewürdigt werden. Farah Jasmine Griffins Beitrag zu "Toni Morrison" (993-997) beschäftigt sich hauptsächlich mit einer Newsweek Cover Story von 1981, wirkt eher wie eine Pflichtübung und wird weder Toni Morrison noch ihrem Werk gerecht, auch wenn Griffin sie "goddess" (994) nennt. Ganz anders Griffins erster Beitrag zu Dreisers "Sister Carrie" und Whartons "The House of Mirth" (459-463), ein kreativer und unkonventioneller Aufsatz über ein Treffen der beiden Hauptfiguren Carrie Meeber und Lily Bart. Er ist voller Gegensätze von sozialen Zwängen, persönlichen Bedürfnissen und dem unerreichten amerikanischen Traum, ein weiteres Beispiel der gespaltenen amerikanischen Geschichte. Letzter Höhepunkt ist Gary Kamiyas "Last Stand on Earth" (923-928) über Ronald Reagans Wahlkampfrede für Barry Goldwater, die mit Individualität, "Frontier" und Freiheit mehrere amerikanische Mythen und Ängste aufgreift, und sich zwischen Metaphysik und Politik, zwischen Predigt und Rede bewegt, so wie die USA noch immer zwischen dem Traum von absoluter Freiheit und der Wirklichkeit einer gefallenen Welt durch ihre Geschichten stolpern, so Kamiya.
Alles in allem überwiegen die positiven Beiträge in diesem ungewöhnlichen Werk, das die Charakteristiken eines Nachschlagewerks mit denen einer Aufsatzsammlung, die einer Literaturkritik mit denen einer Literatur- und Kulturgeschichte vereint, so wie die USA viele verschiedene Stimmen zu einer vereinen. Auch die vermeintlich nicht gehörten, DeLillo, Updike und Wallace, finden zumindest in einzelnen Beiträgen Erwähnung. Dies macht die "New Literary History of America" zu einem unschätzbaren Begleiter in einer Zeit der Wikipedia-Kultur. Anstatt purer kopierbarer Fakten präsentieren die Autoren die Bedeutung hinter den Fakten, provozieren und regen zum Nachdenken an, und tun dies mit einer Begeisterung und Lebendigkeit, die einen vergessen lässt, dass man dem Autor nicht gegenüber sitzt. Greil Marcus und Werner Sollors ist es auf erstaunliche Art bei ihrer Suche nach Amerika gelungen, dessen Stimme(n) einzufangen. Auch in ihrem Band wird Amerika einmal mehr neu benannt, neu erfunden und neu entdeckt. Dies macht die "New Literary History" zu einem guten Begleiter für neugierige Laien, genauso wie Experten der amerikanischen Geschichte, Kultur und Literatur. Amerika existiert wieder neu.
John Andreas Fuchs