Rezension über:

Klaus W. Hempfer / Philipp Antony (Hgg.): Zur Situation der Geisteswissenschaften in Forschung und Lehre. Eine Bestandsaufnahme aus der universitären Praxis, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2009, 163 S., ISBN 978-3-515-09379-8, EUR 24,90
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Rezension von:
Christian Mehr
Frankfurt/M.
Redaktionelle Betreuung:
Torsten Riotte
Empfohlene Zitierweise:
Christian Mehr: Rezension von: Klaus W. Hempfer / Philipp Antony (Hgg.): Zur Situation der Geisteswissenschaften in Forschung und Lehre. Eine Bestandsaufnahme aus der universitären Praxis, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2009, in: sehepunkte 10 (2010), Nr. 6 [15.06.2010], URL: https://www.sehepunkte.de
/2010/06/17206.html


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Klaus W. Hempfer / Philipp Antony (Hgg.): Zur Situation der Geisteswissenschaften in Forschung und Lehre

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Die bildungspolitische Diskussion um das Profil deutscher Universitäten ist vielerorts und dauerhaft präsent. Was ist zu dem Bolognaprozess noch ungesagt geblieben, welche wissenschaftspolitische Strategie ist noch nicht ausgerufen, welche zündende Idee oder Kritik ist also auch aus geisteswissenschaftlicher Sicht noch nicht vorgetragen worden? Ein Sammelband, der die Situation der Geisteswissenschaften in Forschung und Lehre erörtert, kann angesichts der breiten Diskussion keine originellen oder gar bahnbrechenden Thesen aufstellen. Der von Klaus W. Hempfer und Philipp Antony herausgegebene Band leistet stattdessen eine gründliche Systematisierung der Debatte auf höchstem Niveau, die von renommierten Geisteswissenschaftlern verschiedener Disziplinen lebhaft und kontrovers bestritten wird.

Die Mehrzahl der Beiträge steuern Wissenschaftler der Freien Universität Berlin bei, die zusammen mit dem DAAD als Veranstalter eines Kongresses zum Jahr der Geisteswissenschaften eingeladen hatten. Die Fachvertreter der FU Berlin sorgen in einzelnen Repliken auf thematisch gebundene Impulsreferate ihrer Kolleginnen und Kollegen für eine dynamische Auseinandersetzung über Forschung und Lehre in den Geisteswissenschaften. Aus dieser Anlage heraus ergibt sich eine differenzierte Debatte, die dem Leser sozusagen die Knackpunkte in der Standortbestimmung der Geisteswissenschaften vor Augen führt: Wie soll die Lehre gestaltet werden, worin besteht der Nutzen der Geisteswissenschaften - schon diese Nützlichkeitsbestimmung ist umstritten -, und wie verhalten sich die Geisteswissenschaften gegenüber der Forderung nach mehr Internationalität, bzw. was ist unter diesem Topos überhaupt zu verstehen? Diese drei Fragestellungen dominieren den Sammelband und trotz der einleitenden Bemerkungen Hempfers und Antonys, die einen "durchgängigen Tenor zu extrapolieren" (12) versuchen, bleibt der Dissens in vielen Fällen unübersehbar.

Ausgehend von einer positiven "Neubewertung der Stellung der Geisteswissenschaften im gesamten Wissenschaftssystem" wollen die Herausgeber der Gefahr begegnen, "dass die in vielen geisteswissenschaftlichen Bereichen im internationalen Maßstab noch immer hervorragende Forschung endgültig ins Hintertreffen gerät. Wesentlicher Grund hierfür ist die Tatsache, dass die politisch gewollte Öffnung der Universitäten vor allem zu einer wesentlichen Erhöhung der Studierendenzahl in den Geisteswissenschaften geführt hat, ohne dass es zu einer entsprechenden Erhöhung der Ressourcen gekommen wäre" (7). Auch wenn dies nicht für alle Disziplinen im gleichen Umfang gilt - die Warnung des Gräzisten Oliver Primavesi vor einer fachlich nicht gerechtfertigten und deshalb "überzogenen Ausdifferenzierung" sogenannter "Kleiner Fächer" (123) zeugt von ganz anderen Schwierigkeiten der Qualitätssicherung - so sind in den großen Disziplinen wie der Geschichtswissenschaft die Zustände alarmierend. Der Freiburger Historiker Ulrich Herbert diagnostiziert insbesondere in der Lehre deutliche Krisenphänomene und scheut auch nicht die Mitteilung unbequemer Beobachtungen. Herbert will die "Leistungsstarken und Wissenschaftsbegeisterten" (41) zurück in die geisteswissenschaftlichen Seminare holen, deren Klientel sich aufgrund der Anforderungen und Zulassungsbeschränkungen in anderen Fächern gegenwärtig eher aus "bildungsfernen Elternhäusern" (38) und "Risikofeindlichen" (40) speise. Statt wenig zu verlangen und gut zu benoten fordert er ein "System der stärkeren Einzelbetreuung, der regelmäßigen, das heißt wöchentlichen Lektüre und Anfertigung von ebenso regelmäßigen schriftlichen Arbeiten, die ebenso wöchentlich mit schriftlichen Korrekturen versehen und mit den einzelnen Studierenden besprochen werden." (41) Auch Herbert muss freilich dahin gestellt lassen, ob die Politik jemals die finanziellen Voraussetzungen für eine solche Betreuungsrelation schafft, aber solange es einzelne Standorte "kontrollierter Verwahrlosung" gebe und "die Leistungsstandards auch an solchen Universitäten nicht deutlich höher sind, wenn die Lehre nicht individueller, fordernder, helfender gestaltet wird, so ist der Rekurs allein auf die Politiker eben auch unzureichend." (41)

Den Standards in der Lehre korrespondiert die Forderung nach Standards für die Forschung. Der Standardisierung muss die Bestimmung dessen vorausgehen, was gemessen und standardisiert werden soll. Damit wird das weite Feld der Wesensbestimmung geisteswissenschaftlicher Forschung betreten. Die Autoren machen auf eine ganze Reihe von Merkmalen aufmerksam, die es nicht erlauben, die Geisteswissenschaften dem Maßstab des Nutzenkalküls anderer Wissenschaften zu unterwerfen. Der Germanist Peter Strohschneider sieht die "gesellschaftliche Bedeutung der Geistes- und Kulturwissenschaften" gerade in der "Komplexität und Reflexivität ihrer Deutungsleistungen" (22) und Stephen G. Nichols, Romanist an der Johns Hopkins University (Baltimore), verortet diese zu bewahrende Komplexität und Unterschiedlichkeit der geisteswissenschaftlichen Kulturen als eine historische Tradition im Sinne von Heideggers Diktum "Bauen Wohnen Denken" (54). Dem gegenüber stehen Repliken, die stärker die Verbundenheit der Geisteswissenschaften untereinander, mit anderen Disziplinen und über Ländergrenzen hinweg betonen. Für Erika Fischer-Lichte, Theaterwissenschaftlerin, lassen sich die "Fragen, denen geistes- und kulturwissenschaftliche Forschung gilt, letztlich auf drei grundlegende Fragen zurückführen [...]: Wer bin ich? Woher komme ich? Wohin gehe ich?" (23). Die Philosophieprofessorin Sybille Krämer und der Romanist Joachim Küpper stellen einen wissenschaftsgeschichtlichen Zusammenhang zwischen der Einheit und damit auch Standardisierbarkeit der Geisteswissenschaften mit den Ideen der Aufklärung bzw. den studia humanitatis der Renaissance her.

Die Internationalisierung ist aus dieser Perspektive den Geisteswissenschaften ohnehin ins Stammbuch geschrieben. Die area studies sind dabei schon aufgrund ihres Gegenstandes, der Kultur in unterschiedlich großen Räumen und Regionen umfasst, international. Welche institutionellen Konsequenzen daraus resultieren und ob der territoriale Raumbegriff zugunsten der Transkulturalität aufgegeben werden soll, das diskutieren Michael Lackner und Ursula Lehmkuhl.

Insbesondere mit Blick auf die Wissenschaftssprache Englisch als neue lingua franca kommt es in dem Sammelband zu divergenten Einschätzungen. Der Germanist Konrad Ehlich warnt in 17 Thesen vor der Verarmung wissenschaftlicher Reflexion, sollte die wissenschaftliche Mehrsprachigkeit dem Englischen als lingua franca geopfert werden. Dem entgegnet Ekkehard König, Anglist, genauso entschieden mit dem Hinweis auf die Möglichkeit "nahezu optimalen wissenschaftlichen Austauschs über alle Grenzen und Barrieren hinweg" (118). Paul Nolte plädiert dagegen für mehr Gelassenheit. "Internationalisierung heißt nicht: Alles wie die anderen machen" (154) und es heiße auch nicht "alles mit den anderen machen." Pragmatisch folgert er: "Sie funktioniert auch, so könnte man dagegen halten, nach dem Prinzip des Nacheinander [...] B.A. in Berlin, der M.A. in Oxford, die Promotion in Chicago - an jeweils profilierten, unterscheidbaren [...] Institutionen, auf deren Besonderheit man sich mit Gewinn eine Zeitlang intensiv einlassen kann." (156) Ob sich dabei die Besonderheit deutscher Institutionen in Zukunft eher in der Rückbesinnung auf die Humboldtsche Forschungsuniversität (Ansgar Nünning) widerspiegelt oder in einem beherzteren Aufgreifen der Chancen des Bolognaprozesses (Wolfgang Mackiewicz) ist die letzte Debatte, die die Publikation aufgreift.

Dem Sammelband gelingt es, dem Leser die Komplexität der entscheidenden Weichen für die Zukunft der Geisteswissenschaften vor Augen zu führen. Ihm wären daher auch viele Entscheidungsträger der Bildungs- und Wissenschaftspolitik als Leser zu wünschen, die die Weichen stellen werden.

Christian Mehr