Thomas Lau: "Stiefbrüder". Nation und Konfession in der Schweiz und in Europa (1656-1712), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2008, XII + 555 S., ISBN 978-3-412-14906-2, EUR 59,90
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Die vorliegende Studie, eine an der Universität Fribourg 2005 angenommene Habilitationsschrift, wendet sich einer in zweifacher Hinsicht vernachlässigten Epoche zu, der Zeit zwischen den beiden Villmerger Kriegen 1656 bis 1712. Denn zum einen hat dieser Zeitraum der schweizerischen Geschichte stets weit weniger Aufmerksamkeit erfahren als beispielsweise die Reformationsepoche oder das Zeitalter der Aufklärung; vermutlich ist dieses halbe Jahrhundert das am wenigsten erforschte der frühneuzeitlichen Schweizer Geschichte. Und zum anderen galten die Forschungen zum Verhältnis von Nationalismusdiskurs und sakralen Ordnungsmustern vornehmlich dem 19. Jahrhundert; Lau hingegen stellt diese Frage an die Spätphase des Konfessionellen Zeitalters.
Dabei wendet er sich gegen die lange Zeit vorherrschende Sicht, dass der Nationalismusdiskurs die sakrale Weltdeutung abgelöst habe, dass also von einer klaren zeitlichen Abfolge der beiden Konzepte auszugehen sei, die Teil des fundamentalen Säkularisierungsprozesses gewesen seien. Gerade durch die Wahl eines Untersuchungszeitraums weit vor der klassischen Modernisierungsepoche eröffnen sich hier ganz neue Einblicke.
In einer ausführlichen Einleitung legt Lau die theoretischen und methodischen Prämissen seiner Arbeit dar. Allerdings ist in dem weiten Bogen an Deutungsangeboten, den er vor dem Leser aufspannt, nicht immer klar, welche Funktion den genannten Autoren und Theorien für die konkrete Analyse zukommt. Dabei gelten die Ausführungen fast ausschließlich der theoretischen Auseinandersetzung mit dem Nationalismus und der Definition von "Nation"; was eine Konfession ist, scheint für Lau hingegen nicht erklärungsbedürftig zu sein. Selbstverständlich steht außer Frage, dass es gerade zum Komplex Nationalismus eine außerordentlich lange und rege wissenschaftliche Diskussion gab und gibt, der keine vergleichbare zu "Konfession" entspricht. Allerdings wird unter Kirchenhistorikern durchaus darüber diskutiert, wie eine Konfession zu definieren ist, und auf das für den Zusammenhang ja hinreichend einschlägige Konzept der Konfessionalisierung verweist Lau nur an einer Stelle, ohne weitere Erläuterung (74). Bei einer solch ausführlichen Einleitung hätte man wenigstens kurze Hinweise zum zweiten Schlüsselbegriff des Titels erwartet.
In zwei großen Hauptteilen durchmisst die Darstellung die Entwicklung von der Entfremdung der eidgenössischen Konfessionsparteien im Anschluss an die protonationale Phase des humanistischen Nationendiskurses und der gesamteidgenössischen Mythenbildung bis zur Rekonstruktion einer eidgenössischen Nation im 18. Jahrhundert. Die zu Beginn des 16. Jahrhunderts mächtigen Mythen wie der Helvetier-, der Tell- oder der Bruder-Klaus-Mythos wurden im Gefolge der konfessionellen Spaltung von jeweils einer Konfessionspartei vereinnahmt oder verloren an Bedeutung. An ihre Stelle traten allegorische Gestalten, die freilich nicht in gleichem Maße zu emotionaler Identifizierung einluden. Wie sehr die konfessionelle Entfremdung schließlich den Umgang der Eidgenossen prägte, zeigt eindrücklich die Vorgeschichte des Ersten Villmerger Krieges 1655. Es ist nämlich nur durch das abgrundtiefe Misstrauen zwischen den Konfessionsparteien zu erklären, dass es der Minderheit der (vor allem in Zürich beheimateten) Kriegsbefürworter gelang, die Mehrheit davon zu überzeugen, dass ein Krieg unvermeidbar sei, da nur so die Gewichte innerhalb der Eidgenossenschaft neu und angemessen austariert werden könnten. Das - zeitlich parallel zu der geschilderten Entfremdung verlaufende - Pendant stellt die konfessionelle Verdichtung in beiden Lagern dar.
Eine solcherart gespaltene Eidgenossenschaft war für ihre ausländischen Bündnispartner nur schwer berechenbar, sie mussten deshalb ein Interesse an einer Überwindung der innereidgenössischen Differenzen haben. Frankreich versuchte folgerichtig, den eigenen nationalen Diskurs, der bis zur Revokation des Edikts von Nantes 1685 konfessionelle Gesichtspunkte weitgehend ausblendete, auf die Eidgenossenschaft zu übertragen. Dies konnte - durch den Einsatz höfischer Mechanismen an der Residenz des französischen Gesandten in Solothurn und durch die Betonung eines am alten Kriegsruhm der Eidgenossen orientierten Ehrbegriffs - freilich nur so lange einigermaßen funktionieren, bis die antiprotestantische Politik Frankreichs es den evangelischen Orten unmöglich machte, sich mit der Idee einer über das Bündnis mit Frankreich sich definierenden Eidgenossenschaft zu identifizieren. Die harte Realität der hugenottischen Glaubensflüchtlinge siegte insoweit über die ideologischen Konzepte Frankreichs.
Der französischen Offensive stellten die in der Großen Allianz verbündeten Mächte Reich, Großbritannien und Niederlande ein überkonfessionelles Konzept gegenüber, das vor allem auf dem Feindbild von Frankreich als dem Antichrist beruhte. Durch das Bündnis mit dem französischen Antichrist habe die Eidgenossenschaft ihren eigenen Verfall verursacht. Konsequenterweise wurde den Eidgenossen als Rettung ein Zusammengehen mit den Alliierten angeboten. Dabei bedienten sich die einzelnen Allianzpartner allerdings unterschiedlicher Modelle, wenn der Kaiser zum Beispiel an die Eidgenossen als Teil der großen, im Wesentlichen sprachlich und über die gemeinsame Ehre definierten deutschen Nation appellierte oder die Niederlande die natürliche Freundschaft zwischen den beiden Republiken betonten. Gemeinsam wurde eine europäische Nationengemeinschaft postuliert, aus der sich Frankreich durch seine aggressive Politik selbst ausgegrenzt habe. Dem stellten die Alliierten ein defensives feminines Ehrkonzept gegenüber, das auf die Bewahrung der bestehenden Ordnung ausgerichtet war. Das offensichtliche Hegemonialstreben Frankreichs erleichterte den antifranzösischen Kräften die Arbeit, in den evangelischen Teilen der Eidgenossenschaft kam die Ablehnung der Hugenottenverfolgung dazu. Das konfessionelle Element war schließlich dafür verantwortlich, dass sich kein einheitliches Feindbild und schon gar kein von allen getragenes Selbstbild durchsetzen konnte. Immerhin überlagerte in den reformierten Orten das antifranzösische Feindbild das antikatholische; aber solange die Innerschweizer Orte an ihrer Freundschaft zu Frankreich und ihren konfessionellen Ressentiments festhielten, eröffnete sich auch dadurch keine Chance für eine größere Gemeinsamkeit.
Der konfessionelle Antagonismus ließ sich dann im Zweiten Villmerger Krieg 1712 erneut reaktivieren. Zugleich aber war Zürich, das mit diesem Kriegszug eine Korrektur des innereidgenössischen Gleichgewichts anstrebte, um eine Begrenzung der Auseinandersetzung bemüht. Nachdem der Krieg dann tatsächlich die protestantische Partei gestärkt hatte, erlaubte diese Position der Stärke den Evangelischen ein säkulares Nationenkonzept zu entwickeln, das freilich die konfessionellen Brüche des Diskurses verschärfte, da es für die katholischen Orte inakzeptabel war. Diese Brüche konnten zwar auf der Ebene des wissenschaftlichen Diskurses im 18. Jahrhundert überwunden werden, einer Übertragung auf breitere Schichten stellten sich jedoch unüberwindliche Schwierigkeiten entgegen. Die Französische Revolution erforderte dann ganz neue Antworten, die die alten Konzepte nicht bieten konnten.
Für diesen - hier selbstverständlich nur in Grundzügen nachgezeichneten - Gang durch den eidgenössischen Diskurs und die den Eidgenossen von den interessierten europäischen Mächten vorgelegten Interpretationsangebote breitet Lau eine beeindruckende Zahl zeitgenössischer Druckschriften aus, die vorbildlich mit ihren Fundorten im Literaturverzeichnis aufgeführt werden. Allerdings entgeht die Studie nicht ganz einer grundsätzlichen Gefahr der Diskursanalyse, dass diese nämlich weitgehend losgelöst von historischen Ereignissen über den Dingen zu schweben scheint. Denn gelegentlich beschlichen die Rezensentin Zweifel, ob die Ausführungen für Leserinnen und Leser, die mit der schweizerischen Geschichte nicht exzellent vertraut sind, ohne Weiteres nachvollziehbar sind, da laufend mit Personen und Ereignissen argumentiert wird, die erst später oder gar nicht näher erläutert werden (zum Beispiel Kesselringhandel, 79; Nellenburgfrage, 361). Hier hätte etwas mehr ereignisgeschichtliche Erdung der Darstellung sicher gutgetan. Dass diese unterblieben ist, ist umso mehr zu bedauern, als Lau gerade durch die äußerst verdienstvolle Einbindung des schweizerischen in einen gesamteuropäischen Diskurs seine Studie sicherlich nicht als eine speziell schweizergeschichtliche verstanden wissen möchte.
Bettina Braun