Rezension über:

Gerald Geilert: OCTOBER-Revolution in der amerikanischen Kunstkritik, München: Wilhelm Fink 2009, 288 S., ISBN 978-3-7705-4730-2, EUR 38,00
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Rezension von:
Olaf Peters
Institut für Kunstgeschichte und Archäologien Europas, Martin-Luther-Universität, Halle-Wittenberg
Redaktionelle Betreuung:
Hubertus Kohle
Empfohlene Zitierweise:
Olaf Peters: Rezension von: Gerald Geilert: OCTOBER-Revolution in der amerikanischen Kunstkritik, München: Wilhelm Fink 2009, in: sehepunkte 10 (2010), Nr. 7/8 [15.07.2010], URL: https://www.sehepunkte.de
/2010/07/15673.html


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Gerald Geilert: OCTOBER-Revolution in der amerikanischen Kunstkritik

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Die Kunsthistoriografie hat sich in den letzten Jahren zunehmend als eine der wichtigen Teildisziplinen der Kunstgeschichte etabliert, eine Vielzahl bedeutender Publikationen zur Wissenschaftsgeschichte des Fachs untermauert das in der letzten Zeit eindrucksvoll. Mit Gerald Geilerts Kasseler Dissertation zu der höchst einflussreichen amerikanischen Zeitschrift OCTOBER, die seit der fünften Ausgabe von der angesehenen MIT-Press veröffentlicht wird, rückt das kunstkritische wie kunstwissenschaftliche Zentralorgan der New Art History endlich in einer monografischen Studie in den Blick. Damit wird ein wichtiger Beitrag zur jüngsten Geschichte der Kunstgeschichte geleistet.

In einem ersten Teil, der etwas mehr als ein Drittel der Arbeit umfasst, stellt Geilert überblicksartig die New Yorker Kunstszene und die Kritikerlandschaft nach 1945 vor. Dabei konzentriert er sich auf die Geschichte des New Yorker Museum of Modern Art sowie vor allem auf die Zentralfigur Clement Greenberg, dessen Schülerin Rosalind Krauss zu einer der Gründerinnen von OCTOBER werden sollte. Die Abschnitte sind insgesamt informativ und orientieren etwa über Greenbergs Position - allerdings ohne auf Caroline A. Jones 2005 erschienenes Standardwerk Eyesight Alone Bezug zu nehmen. [1] Dies geschieht in der Abgrenzung Greenbergs von Kritikern wie Leo Steinberg und Krauss selbst, bezieht die Minimal Art der 1960er-Jahre als Kunstrichtung und das wichtige, zunächst in Los Angeles beheimatete Kunstmagazin Artforum als Institution mit ein. Diskussionen um die historische Stellung Auguste Rodins oder die Bewertung der Minimal Art bargen den entscheidenden Konfliktstoff, der die Neugründung einer diskursiv angelegten, sich vom "pictorial journalism" abgrenzenden Zeitschrift notwendig erscheinen ließ, in der diese Fragen, erweitert um methodische und institutionelle, verhandelt wurden.

Der Hauptteil des Buches besteht aus der ausführlichen Wiedergabe der in der Zeitschrift behandelten Themen, ihrer Entstehung und Geschichte - gegründet wurde sie 1976 in New York von Rosalind Krauss, Annette Michelson und Jeremy Gilbert-Rolfe. So wird in zwei Unterkapiteln kurz auf die methodische Ausrichtung der Zeitschrift eingegangen, die anfänglich sowohl dem strukturalistischen als auch dem semiotischen Ansatz verpflichtet war (101-108). Mit dem Titel der Zeitschrift bezog man sich auf Sergej Eisensteins gleichnamigen Film aus den 1920er-Jahren und dabei arbeitet Geilert heraus, wie wichtig OCTOBER für die Rezeption der historischen Avantgarden, insbesondere des Konstruktivismus, aber auch unterschiedlicher Medien, vor allem Fotografie und Film wurde. Überdies sind Quellentexte hier erstmals in englischer Sprache zugänglich gemacht worden. Man startete 1976 programmatisch mit Michel Foucaults Text "Ceci n'est pas une pipe" über Magrittes gleichnamiges Schlüsselwerk des Surrealismus als erstem Text in OCTOBER überhaupt.

Anhand der beiden bisher erschienenen Anthologien mit Texten der beiden ersten Dezennien der Zeitschrift und den dort verwendeten Kategorien - von der Indexikalität bis zur Abject Art - strukturiert auch Geilert seine Darstellung. Das erscheint dem Leser zu einfach und enttäuscht, da man über weite Strecken den Eindruck der Paraphrase und bloßen Zusammenfassung erhält, wenngleich man diese zugleich freilich dankbar annehmen mag. [2] Hier stören einen dann auch Missverständnisse oder ausgeblendete Bezüge, die den Eindruck einer etwas oberflächlichen Immanenz machen: Auf Seite 125 kann der Eindruck entstehen, Alfred Barr sei 1935 noch nicht MoMA-Direktor gewesen; Benjamin Buchlohs Abhängigkeit von Peter Bürgers Theorie der Avantgarde wird auf Seite 126 nicht thematisiert und auf Seite 128 stellt sich der Eindruck ein, es handle sich bei Walter Benjamins berühmtem Kunstwerk-Aufsatz um ein Buch und nicht um einen Aufsatz, da Geilert nur das schmale Bändchen der edition suhrkamp benennt und diese Aufsatzsammlung als Buch begreift. Unklar bleibt an anderer Stelle, warum sich der Autor im Falle von Manets Erschießungsbild verhältnismäßig lange mit der Genese und dem historischen Kontext des Werkes selbst beschäftigt (144-149). Zum Verständnis der eigentlichen Fragestellung - es geht um die Bataille-Rezeption bei Krauss - trägt das kaum bei. Wenn es um die gesellschaftliche Akzeptanz der von OCTOBER geförderten Kunst geht, dann erwartet man mehr als die Wiedergabe der öffentlichen Auseinandersetzung um Richard Serras Tilted Arc (260-266).

Verdienstvoll ist, dass Geilert sich nicht nur auf die Zeitschrift im engeren Sinne bezieht, sondern auch die ebenfalls einflussreichen OCTOBER-Books und OCTOBER-Files heranzieht, also Monografien mit der Zeitschrift verbundener AutorInnen oder Zusammenstellungen von bedeutenden Aufsätzen (überwiegend aus OCTOBER selbst) zu wichtigen Künstlern nach 1960 wie Hesse, Richter, Serra oder Warhol. Der gewichtige Überblicksband Art since 1900 hätte freilich ebenfalls gebührend berücksichtigt werden müssen, erreicht die Kunstgeschichtsschreibung der OCTOBER-Kohorte hier doch eine neue Stufe. [3] Dennoch ist Geilert insgesamt ein wichtiger Beitrag zur Geschichte der jüngsten Kunstgeschichte gelungen, der sich streckenweise jedoch zusammenfassend und additiv ausnimmt, aber gleichwohl zeigt, dass die Zeitschrift intellektuelle Maßstäbe gesetzt hat. Kritische Bewertungen, die etwa die so dominante Rolle und Vorbildfunktion der OCTOBER-Kritiker und -Thesen im gegenwärtigen Kunstdiskurs als einseitige Kanonisierung problematisieren würden, vermisst man weitgehend. Die blinden Flecken von OCTOBER hätten schärfer benannt werden können. Ausführlich hätte man auch über das deutsche Pendant Texte zur Kunst, die sich ja ganz in die Tradition von OCTOBER stellten, sprechen können. Und schließlich wäre auch die Tatsache erwähnenswert, dass Yve-Alain Bois inzwischen in der direkten Traditionslinie von Erwin Panofsky, Irwin Lavin und Kirk Varnedoe zum permanent faculty member des Institute for Advanced Study in Princeton avanciert ist - kein anderer Sachverhalt kann indirekt besser die Macht und akademische Akzeptanz einer Kunstzeitschrift verdeutlichen, die sich deutsche Bibliotheken entweder oft nicht leisten wollen oder können.


Anmerkungen:

[1] Caroline A. Jones: Eyesight Alone. Clement Greenberg's Modernism and the Bureaucratization of the Senses, Chicago / London 2005.

[2] Vgl. ergänzend und kontrastierend den kritischen Beitrag von Verena Krieger: Der Blick der Postmoderne durch die Moderne auf sich selbst. Zur Originalitätskritik von Rosalind Krauss, in: Kunstgeschichte & Gegenwartskunst. Vom Nutzen und Nachteil der Zeitgenossenschaft, hg. von Verena Krieger, Köln / Weimar / Wien 2008, 143-161.

[3] Hal Foster / Rosalind Krauss / Yve-Alain Bois / Benjamin H.D. Buchloh: Art since 1900. Modernism, Antimodernism, Postmodernism, London 2004.

Olaf Peters