Rezension über:

Peter Stephan: Der vergessene Raum. Die dritte Dimension in der Fassadenarchitektur der Frühen Neuzeit (= Eikoniká. Kunstwissenschaftliche Beiträge; Bd. 1), Regensburg: Schnell & Steiner 2009, 636 S., mit über 400 Abbildungen, ISBN 978-3-7954-2178-6, EUR 86,00
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Rezension von:
Christof Baier
Kunstgeschichtliches Seminar, Humboldt-Universität zu Berlin
Redaktionelle Betreuung:
Hubertus Kohle
Empfohlene Zitierweise:
Christof Baier: Rezension von: Peter Stephan: Der vergessene Raum. Die dritte Dimension in der Fassadenarchitektur der Frühen Neuzeit, Regensburg: Schnell & Steiner 2009, in: sehepunkte 10 (2010), Nr. 7/8 [15.07.2010], URL: https://www.sehepunkte.de
/2010/07/17499.html


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Peter Stephan: Der vergessene Raum

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Ausgehend von Schmarsows berühmter Definition der "Architektur als Raumgestalterin" [1] und unterstützt von dem verschiedene Wissenschaften erfassenden "spatial turn", hat die Thematisierung des architektonischen, städtischen und gartenkünstlerischen Raums in den letzten Jahren auch in der Kunstgeschichte Konjunktur. [2] Peter Stephans gewichtiges Buch versteht sich als spezifisch kunstgeschichtlicher Beitrag zu der lange von Kultur- und Sozialwissenschaften geprägten "raumkritischen Wende".

In seiner Komplexität und seinem hohen methodischen Anspruch ist das aus Peter Stephans preisgekrönter Freiburger Habilitationsschrift hervorgegangene Buch der Auftakt zu einer neuen, von der Görres-Gesellschaft herausgegebenen kunstwissenschaftlichen Reihe. Unter dem programmatischen Titel "Eikoniká" sollen hier Arbeiten mit "formanalytischer, stilgeschichtlicher, ikonographischer oder ikonologischer Ausrichtung" veröffentlicht werden (11). Auch hinsichtlich seiner üppigen Ausstattung mit über 400 (leider mitunter unscharfen) Abbildungen, Personen- und Ortsregister ist dieses Buch ein würdiger Auftakt.

Anliegen des Buchs ist es, "den Fassadenraum als eine wesentliche ästhetische, ikonographische und soziale Größe der frühneuzeitlichen Architektur ins allgemeine Bewusstsein zurückzurufen". Eingewoben in diese übergreifende und titelgebende Fragestellung ist ein nicht weniger komplexer Themenkreis - die Bedeutung des Fassadenraums bei der Prägung des römischen Stadtraums durch die päpstliche Baupolitik von Sixtus V. bis zu Alexander VII. [3]

Peter Stephan durchmisst den Fassadenraum des neuzeitlichen Europa in vier Schritten. Der erste Schritt (Teil A) bietet eine "Annäherung an das Thema" und macht an zahlreichen aktuellen Beispielen vor allem deutlich, welche (negativen) Auswirkungen eine fehlende oder zu flüchtige Lektüre der Fassadenräumlichkeit historischer Gebäude durch Architekten, Bauherren, Denkmalpfleger und Kunsthistoriker haben kann.

In einem zweiten Schritt (Teil B: "Struktur und Form des Fassadenraums") breitet der Autor in drei Kapiteln eine architekturmorphologische Analyse des Fassadenraums vor dem Leser aus. Kernpunkt des ersten Kapitels ist es, die Raumhaltigkeit von Fassaden mit Hilfe großteils selbst entwickelter Kategorien und Termini möglichst umfassend zu erfassen und typisierend zu ordnen. Anhand zahlreicher Beispiele demonstriert Stephan den Variantenreichtum von "Tiefenräumlichkeit, Breitenräumlichkeit, Frontalräumlichkeit" (52f.) oder auch die Eigenschaften von verschiedenen (Fassaden-)Raumtypen. Dieses penible Ausbuchstabieren der Raumhaltigkeit von "raumeinschließenden, raumummantelnden, raumteilenden, raumausgreifenden, raumeinlassenden, raumübergreifenden oder raumuntergreifenden" Fassaden fordert vom Leser zwar höchste Aufmerksamkeit, erweist sich bei der weiteren Lektüre aber als unverzichtbares analytisches Handwerkszeug (58).

Ein Glanzstück des Buchs ist die im dritten Kapitel von Teil B durchgeführte umfassende Analyse der Raumhaltigkeit des Theatermotivs, jenes Motivs also, das auf so einzigartige Weise die architektonischen Gesetzmäßigkeiten der Wandbauweise mit der Logik des Gliederbaus vereint. Stephan unterstreicht mit diesem Kapitel eindrucksvoll die Bedeutung des von der Forschung lange vernachlässigten Theatermotivs als eines der in der Neuzeit geläufigsten "Strukturelemente, um verschiedene Räume miteinander zu verbinden" (239).

Das kurze vierte Kapitel ("Der Raum als Körper") deckt eine Fehlstelle der Untersuchung auf: die Klärung des Raumbegriffs des 17. Jahrhunderts. Wenn Stephan hier versucht, sein "Erklärungsmodel vom Raum als einem aus Luft bestehenden Körper" zu untermauern (137), oder wenn in seiner Deutung an anderer Stelle davon die Rede ist, ein Platzraum habe sich "in die Wand gebohrt und dabei seine Dynamik eingebüßt" (69), oder wenn die Fassade als "eine Art Membran" gedeutet wird, "die den Druck von Außen an den Binnenraum weitergibt" und zugleich auf den "Innendruck" reagiert (68, auch 201, 387), dann sollte dieses Erklärungsmodel durch einen Rekurs auf die Ideengeschichte der Begriffe Raum, Kraft und Dynamik untermauert werden. Darstellungen wie etwa die von Karin Leonhard 2006 hätten hier Anschlussmöglichkeiten geboten. [4] Wie wertvoll ein solcher Rückgriff sein kann, zeigt Stephan selbst etwa dort, wo er mit Bezug auf zeitgenössische theologische Quellentexte das Raumkonzept von Sankt Peter als "Vergegenwärtigung des petrinischen Tugendwegs" beschreibt (336).

Mit seinem dritten Schritt (Teil C) wendet sich Stephan "Wesen, Funktion und Bedeutung des Fassadenraums" zu. Dabei werden u.a. Berninis Sant'Andrea al Quirinale und Borrominis Sant'Ivo nach der funktionalen und ikonologischen Bedeutung der jeweils realisierten Formen von Fassadenräumlichkeit befragt. Durch die systematische Einbeziehung seiner architekturmorphologischen Raumbeobachtungen kann Stephan in der Konzeption der behandelten Bauten Intentionen der Bauherren und Architekten offen legen, die bisher so nicht gesehen worden sind. Sehr überzeugend interpretiert er etwa die Raumhaltigkeit von Sant'Andrea als Mittel der "gentilizischen Kodierung"; für Sant'Ivo schlägt er mit Nachdruck die "Vergegenwärtigung der göttlichen Offenbarung im Raum als Strategie eines politischen 'possesso'" vor und bei anderen Bauten interpretiert er den Fassadenraum als "Mittel der liturgischen Inszenierung", "theatralische Szene" oder "Platzstaffage".

Die einzelnen Kapitel des umfangreichen Teil C erreichen teilweise monografischen Charakter. So kann Stephan die hochkomplexe architektonische Gestalt von Sant'Ivo mit Hilfe des Rückgriffs auf Schriften des heiligen Augustinus oder des Pseudo-Dionysius Areopagita überzeugend als "Emanations- und Effusionsarchitektur" und als "Haus der Weisheit in statu nascendi" (172f.) interpretieren. Im Rahmen solch umfassender ikonologischer Deutungen tritt der Fassadenraum allerdings etwas in den Hintergrund und lässt dem eingangs benannten zweiten Themenkomplex, der Prägung des römischen Stadtraums durch die päpstliche Baupolitik, argumentativ den Vorrang - eine anspruchsvolle Abweichung vom roten Faden, die dennoch als Gewinn verbucht werden kann.

Mit dem vierten Schritt (Teil D) führt uns Stephan vor den "verlorenen Raum" von Sankt Peter in Rom. Die in den Teilen B und C gesondert durchgeführte Analyse der architekturmorphologischen und ikonografischen Relevanz von Fassadenräumlichkeit wird nun an einem der berühmtesten Baukomplexe der abendländischen Kultur exemplarisch zusammengeführt, um so schließlich die "raumnegierende Wirkung nachträglicher Schließungen" von Fassaden mit Recht als "verhängnisvollen Verlust" und "Verstümmelung" qualifizieren zu können (268).

Obwohl auch Teil D wieder als in sich geschlossene Monografie gelesen werden kann, laufen hier auch die vielfältigen, in den vorangegangenen Kapiteln aufgenommenen Fäden eindrucksvoll zusammen. Es ist erstaunlich, dass Stephan mit seinem die Raumhaltigkeit von Fassaden formal und inhaltlich ernst nehmenden Ansatz auch in der Baugeschichte von Sankt Peter neue Akzente setzen kann. So gelingt es ihm zunächst, die heute verstellte, hoch artifizielle Raumhaltigkeit von Madernos Fassade zu veranschaulichen und in einer "Rhethorik des Bewahrens" (Bredekamp) zu verorten. Im Anschluss kann er diese Beobachtungen - gepaart mit einer Neulektüre von Berninis 'Cathedra' - zum Ausgangspunkt einer viel umfassenderen "Wiederentdeckung" des unter Papst Alexander VII. "völlig neu kodierten römischen städtischen Tableaus" machen - der "Roma Alexandrina" (309).

Abschließend kann nicht verschwiegen werden, dass die Lektüre der zahlreichen Fassadenanalysen und das Nachvollziehen der mitunter verschlungenen Interpretationswege den Rezensenten einiges an Kraft und Durchhaltevermögen gekostet haben. Wer diesen Aufwand aber auf sich nimmt, wird reich belohnt. So ist dem Buch zu wünschen, dass es intensiv studiert wird, vor allem aber, dass es nachdrücklich dazu beiträgt, die neuzeitliche Fassade im Anschluss an Schmarsows "Architektur als Raumgestalterin" als eine "raumhaltige Zone eigener Zuständigkeit" wahrzunehmen. [5]


Anmerkungen:

[1] August Schmarsow: Das Wesen der architektonischen Schöpfung, Leipzig 1894, 11.

[2] Vgl. etwa Jörg Döring (Hg.): Spatial turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften, Bielefeld 2008; ein Bsp. für mehrere Forschungsprojekt: "Piazza e monumento" am Kunsthistorischen Institut in Florenz http://www.khi.fi.it/forschung/projekte/projekte/projekt28/index.html.

[3] Vgl. zu diesem zweiten Themenkreis z.B. Ingmar Lorch: Die Kirchenfassade in Italien 1450-1527, Hildesheim 1999; Hermann Schlimme: Die Kirchenfassade in Rom. Reliefierte Kirchenfronten 1476-1765; Monika Melters: Die Kolossalordnung - zum Palastbau in Italien und Frankreich zwischen 1420 und 1670, Berlin u.a. 2008; Publikationen aus dem Forschungsprojekt Requiem http://www2.hu-berlin.de/requiem/cms/publikationen/buecher/.

[4] Karin Leonhard: Was ist Raum im 17. Jahrhundert? Die Raumfrage des Barocks: Von Descartes zu Newton und Leibniz, in: Visuelle Argumentationen. Die Mysterien der Repräsentation und die Berechenbarkeit der Welt, hg. von Horst Bredekamp und Pablo Schneider, München 2006, 11-34.

[5] Nach der "Definition der Fassade" in: Wolfgang Kemp: Architektur analysieren. Eine Einführung in acht Kapiteln, München 2009, 235.

Christof Baier